5.13 Der Bergspiegel von Obersdorf

Wie vorzeiten viele Männer des Hinterbergertales arbeitete auch der Pleam in Obersdorf als Salzfuhrmann. Einst kam er mit seiner Salzfuhre nach Mailand. Dort traf er einen „Welschen“ (das ist ein Italiener), den er schon häufig in Hinterberg gesehen hatte - manchmal hatte er dem Mann auf seinem Wagen ein Plätzchen angeboten und ihn ein Stück weit mitgenommen. Von den Welschen ist bekannt, dass sie verborgene Schätze im Innern der Berge aufspüren können, und deshalb kamen einige auch immer wieder zum Grimming, um sich Gold und Edelsteine zu holen.

Der Pleam und der Welsche grüßten einander freundlich und der Pleam wunderte sich, dass der Welsche auch hier in seiner Heimat so einfach, beinahe ärmlich gekleidet war, wo ihm doch die Schätze des Grimmings nahezu offen vor den Füßen lägen.

Als ihn der Pleam darauf ansprach, sagte der Welsche: „Es ist gut, dass ihr Hinterberger nicht wisst, wie ihr zu Geld kommen könnt. Geld ist zwar ein angenehmes Ding, aber nicht für die Dauer. Nur wer den Reichtum richtig zu verwenden versteht, der ist seiner wert; für andere wird er zum Bösen.“

„Du hast leicht reden, weil du mehr Geld hast, als alle Hinterberger zusammen“, erwiderte der Fuhrmann. Statt einer Antwort forderte ihn der Italiener auf, mitzukommen. Er führte den Fuhrmann in ein altes, baufälliges Häuschen. Dort öffnete er eine Tür und ließ den Pleam in eine ärmliche Kammer eintreten. Wieder wunderte sich der Pleam und fragte: „Warum verschmähst du Reichtum und Wohlstand?“ Darauf antwortete der Welsche: „Geld in unrechten Händen bringt Verderben und Tod. Ich nehme vom Reichtum des Grimming nur das, was ich notwendig brauche.“

Nun fragte der Fuhrmann ihn, wie er die Schätze am Grimming gefunden habe. Darauf zeigte ihm der Italiener einen Spiegel und forderte ihn auf, hineinzusehen. Der Fuhrmann tat es und erblickte einen Gebirgskessel, auf dessen Grund eine Quelle sprudelte. „Das ist eine Goldquelle“, behauptete der Welsche. Der Pleam wollte es nicht recht glauben. Der Italiener drehte nun den Spiegel und hielt ihn dann dem Pleam nochmals vor die Augen.

Wie aber erstaunte dieser, als er im Spiegel sein eigenes Haus in Obersdorf erblickte und auf der Bank vor dem Haus seine Frau beim Spinnen, daneben seinen kleinen Sohn, und auf dem kleinen Hügel in der Wiese sah er seinen Hund liegen und schlafen.

„So, wie du jetzt dein Haus siehst, so kann ich durch den Spiegel alles sehen und sei es auch noch so tief in der Erde versteckt. Damit du aber meinen Worten noch mehr Glauben schenkst, will ich deinen Hund erschießen, der bei deinem Hause liegt und schläft, wenn du es erlaubst.“ Der Pleam meinte, dies sei ohnehin nicht möglich und ließ ihn gewähren. Nun nahm der Welsche aus dem Kasten eine Pistole, hielt deren Mündung an den Spiegel, und drückte ab.

Der Pleam blickte wieder in das sonderbare Glas und sah, wie sein Hund über den Abhang hinabkollerte und wie tot liegen blieb. „Blendwerk, nichts als Schein!“ dachte der Fuhrmann. Der Welsche jedoch sprach: „Sage keinem Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen von dem Bergspiegel, bis du genaue Kunde von meinem Tode erhältst. Wenn du meine Bitte nicht gewissenhaft erfüllst, müsste ich Dich bestrafen; du weißt, dass ich das kann.“

Als der Pleam schließlich von seiner langen Fahrt nach Hause kam, sprang ihm sein kleiner Sohn entgegen und berichtete ihm, dass der Hund ganz plötzlich mitten am schönsten Tag tot umgefallen sei. Der Fuhrmann ließ sich den Vorfall genau beschreiben. Die Zeit stimmte auffallend mit seinem Aufenthalt beim Italiener überein. Von diesem Zeitpunkt an glaubte er an die Zaubergewalt des Welschen. Er sagte jedoch von seinem Erlebnis nichts, bis ihm ein anderer Fuhrmann die Kunde brachte, dass der Italiener gestorben sei.

Der alte Pleam (=Pliem)-Hof befindet sich mitten in Obersdorf, seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts befindet sich der neue Pleam-Hof am westlichen Ende der „Laasen“, ca. 100 Meter südlich der Obersdorfer Abfahrt von der Bundesstraße. Dass etliche Hinterberger durch viele Jahrhunderte als Salzfuhrleute arbeiteten und so regen Kontakt mit Händlern aus dem Süden gehabt haben mussten, ist historisch belegt.

Quelle: Sagenhaftes Hinterbergertal, Sagen und Legenden aus Bad Mitterndorf, Pichl-Kainisch und Tauplitz vom Ende der Eiszeit bis zum Eisenbahnbau, Matthias Neitsch. Erarbeitet im Rahmen des Leader+ Projektes „KultiNat“ 2005 – 2007.
© Matthias Neitsch