5.12 Der geblendete Grimmingjäger

Einmal im Jahr, am Fronleichnahmstag während der Wandlung, öffnet sich das Grimmingtor. Im Inneren der Höhle hängen Goldzapfen von der Decke herab, aber um zu ihnen zu kommen, muß man zuvor einen kleinen See überqueren. Vor langer Zeit gelang dies einem Jäger. Er kam genau zu der Stunde, an der das Tor offen stand, zu der Höhle im Grimming. Weil er diese früher noch nie gesehen hatte, ging er hinein. Sie führte tief ins Innere des Berges, aber sonderbarerweise wurde es nicht dunkler, so weit der Jäger auch gehen mochte. Am Ende der Höhle angelangt, sah er einen Bach aus dem Felsen fließen, der aber sogleich wieder im lockeren Gestein verschwand. Knapp über dem Wasser befand sich ein Loch, durch welches ein eigentümlich glänzender Schein hervordrang. Kurz entschlossen sprang der Jäger ins Wasser und schwamm noch weiter hinein ins Innere des Berges. Schon nach kurzer Zeit erweiterte sich das Loch zu einem großen Saal. Rings an den Wänden zogen sich breite Gänge hin, deren Boden von vielfarbigen Steinen und schimmernden Perlen gebildet war. In der Mitte des Saales befand sich ein See, von dem der Bach abfloß. Der Jäger war im ersten Augenblicke ganz geblendet von der Pracht, die ihn umgab. Erst nach und nach gewöhnte er sich an das Schimmern und Glänzen, das von allen Seiten herniederstrahlte. An den Wänden funkelte edles Gestein in großer Menge und Gold und Silber gab es da so viel, daß kein Fürst der Erde eine solche Menge aufzuweisen hätte. Ringsherum standen Gefäße von gleißendem Golde; Kannen, Becher, Schüsseln und Teller, Schwerter und Lanzen, kostbare Ringe und allerlei Getier und Schmuck, alles aus Gold und Silber und edlem Gestein. An der Decke hingen zwischen Diamanten und Rubinen goldene Leuchter und Ampeln und allerhand Figuren, von denen manche so weit herabreichten, daß sie nahezu die Oberfläche des Wassers streiften. Dem Jäger klopfte das Herz beim Anblick all dieser Pracht. Wenn er nur eine Handvoll solcher Edelsteine, wie sie hier aufgespeichert lagen, mit hinausbringen könnte an die Oberwelt, dann wäre er reich und glücklich für sein ganzes Leben. Er schwamm hin nach einer Seite, wo künstlich gearbeitete Stufen in das Wasser führten, um dort hinaufzusteigen auf den Gang und seine Taschen zu füllen mit kostbaren Steinen. Treppe und Gang jedoch wichen zurück und verschwanden und der Jäger hatte an dieser Seite nichts vor sich als den nackten, glatten Felsen. Nun probierte er es an der anderen Seite. Aber auch hier geschah das gleiche. Die Schätze verschwanden und graues Gestein trat hervor. Dafür aber erschien auf der andern Seite wieder alles, wie es vorher gewesen war. Jetzt wollte er einen goldenen Zapfen von der Decke reißen. Aber in dem Augenblick, da er nach dem Zapfen griff, hob sich dieser. Nun wurde der Jäger zornig. Er schimpfte über die Berggeister, welche mit ihm solch neckisches Spiel trieben und ihm wohl ihre Schätze zeigten, aber nichts davon gönnten. Jetzt aber wallte der See auf und schlug große Wellen. Diese trugen den Jäger hinaus in die vordere Höhle, wo sie ihn mit Gewalt an einen Stein schlugen. Betäubt blieb er hier liegen. Als er das Bewußtsein wieder erlangte, merkte er zu seinem Schrecken, daß er erblindet war. Nach ihm hat niemand mehr den Bach gefunden und auch nicht die Höhle.

Quelle: Sagenhaftes Hinterbergertal, Sagen und Legenden aus Bad Mitterndorf, Pichl-Kainisch und Tauplitz vom Ende der Eiszeit bis zum Eisenbahnbau, Matthias Neitsch. Erarbeitet im Rahmen des Leader+ Projektes „KultiNat“ 2005 – 2007.
© Matthias Neitsch