5.5 Der Schatz in der Pötschenwand

Südwestlich von Bad Mitterndorf gibt es ein von bewaldeten Hügeln umgebenes kleines Wiesental mit einigen kleinen Almhütten und Heustadeln. Die ganze Gegend wird „Pötschenwald“ genannt. Ziemlich weit hinten in dem Tal befindet sich ein alter Opferstein, der vor einigen Jahren bei der Errichtung eines Fahrweges einige Meter von seinem ursprünglichen Ort verschoben wurde. Etwas südwestlich davon erhebt sich ein Hügel namens „Roßkogel“. Nicht weit entfernt von dem Opferstein schließt eine langgestreckte Felswand das Tal nach Norden ab.

Diese Felswand soll sich am Ostersonntag, wenn zum Hochamt geläutet wird, und zwar beim dritten Zusammenläuten, öffnen und sich wieder schließen, sobald das Geläute aufgehört hat. Hinter der Felswand sind unermessliche Schätze verborgen. Nur selten hat es jemand gewagt, diese Zeitspanne zu nutzen, um reich zu werden, denn wer nicht rechtzeitig aus dem Berg kommt, ist verloren.

In Mitterndorf lebte vor langer Zeit eine junge Mutter mit ihrem Säugling in Armut. Einmal stieg sie mit dem Kind im Arm am frühen Morgen des Ostertages zur Felswand. Ein laues Frühlingslüfterl trug den fernen Klang der Kirchenglocken von Mitterndorf heran, und da öffnete sich vor ihr ein Tor in der Wand, und ein eigenartiges Leuchten schimmerte ihr aus dem Inneren der Felswand entgegen. Sie ging hinein und sah in einer riesigen Halle, deren Wände mit Edelsteinen besetzt waren, unzählige Fässer, die bis zum Rand mit Goldkörnern und Silber gefüllt waren.

Sie legte das Kind auf den Boden und raffte Goldkörner in ihre Schürze, soviel sie konnte. Dann eilte sie hinaus, schüttete das Gold auf die Erde und lief wieder in den Berg hinein, um die Schürze neuerlich zu füllen. Dies tat sie einige Male, vergaß aber dabei, das Kind mitzunehmen, und als das Geläute zu Ende war, krachte der Fels wieder zu und das Kind blieb im Innern des Berges. Das Tor war verschwunden, und sie stand vor der glatten Felswand. Sie klopfte mit den Fäusten gegen den Stein, kniete nieder, weinte bitterlich und begann zu beten. Doch alles Flehen half nichts, sie konnte ihr Kind nicht befreien. Und der Schatz, den sie herausgetragen hatte, war zu grauem Sand zerfallen.

Später verdingte sie sich als Magd bei einem Bauern, und das ganze folgende Jahr kam ihr kein Lächeln über die Lippen. Auf den Rat eines alten Einsiedlers stieg sie am nächsten Ostertag wieder zur Wand im Pötschenwald. Und wieder brachte der Frühlingswind den Klang der Glocken von Mitterndorf heran, und das Felsentor tat sich auf. Sie fand ihr Kind wohlbehalten, hob es auf, umarmte und küßte es herzlich, dann eilte sie mit ihm sofort ins Freie. All die Kostbarkeiten in der Höhle beachtete sie nicht mehr, sondern eilte nur noch glücklich mit ihrem Kind zurück nach Mitterndorf.

Quelle: Sagenhaftes Hinterbergertal, Sagen und Legenden aus Bad Mitterndorf, Pichl-Kainisch und Tauplitz vom Ende der Eiszeit bis zum Eisenbahnbau, Matthias Neitsch. Erarbeitet im Rahmen des Leader+ Projektes „KultiNat“ 2005 – 2007.
© Matthias Neitsch