4. Schöpfungs- und andere Mythen

Einige Sagen und Überlieferungen aus dem Hinterbergertal und der Umgebung des Grimming scheinen sehr alt zu sein und Reste alter, möglicherweise keltischer oder noch älterer Mythen zu enthalten. So könnten die beiden Lindwurmsagen in der Klachau und im Grimmingboden Reste alter Schöpfungsmythen sein, wie im Exkurs über den Grimming bereits dargestellt. Die bislang nur mündlich überlieferten Sagen vom Riesen am Kampl und vom Teufelsfelsen in Rödschitz fallen ebenso unter diese Kategorie, denn hier werden Berge von Urwesen erschaffen, indem sie Steine aufs Land werfen. Solche Sagen sind im Alpenraum weit verbreitet. Eine ähnliche Entstehungssage könnte die Überlieferung vom Stier sein, der mit seinem Hals die Grimmingscharte ausgewetzt hat, wenn auch diese Sage in der heute gängigen Überlieferung eher den Charakter einer schelmischen Lügengeschichte hat.

Hinweise auf die vorchristliche Religion der keltischen dreifaltigen Muttergöttin liefern die beiden Sagen von den (drei) Wildfrauen (auch „Salige Frauen“) am Reithartl Kogel und im Lieglloch bei Tauplitz, wo auch ihre gewaltsame Vertreibung angedeutet wird. Die – meist drei - „Saligen“ oder Wildfrauen kommen in den ganzen Alpen vor und haben immer lebens- und fruchtbarkeitsspendende Funktion. Ihr Verschwinden wird immer mit Undankbarkeit und frevelhaftem Verhalten der Menschen in Verbindung gebracht, die ihre lebensspendenden Gaben nicht mehr schätzen und die Wildfrauen böswillig beleidigen. Wahrscheinlich klingt hier verschlüsselt die wohl nicht ganz konfliktfreie Christianisierung der Region nach. Dennoch waren sie auch nach der Christianisierung noch immer derart verehrt und wichtig, dass es ihnen sogar gelang, in in Gestalt der „Heiligen Drei Madln“, Margaretha, Barbara und Katharina in den Kirchen und Bildstöcken des Ostalpenraumes (auch im Hinterbergertal!) bis heute heimlich weiterzuleben!

Möglicherweise befanden sich beim Reithartl Kogel und beim Lieglloch entsprechende Heiligtümer bzw. Kultstätten, auf die auch der Name des auffälligen Felsvorsprunges auf der Westseite des Reithartlkogels, „Jungfrauenturm“, hindeutet. Die Lieglsage lässt ein Quellheiligtum vermuten, auch der slawische Name der nahen Ortschaft Tauplitz (slowenisch „toplice“) bedeutet soviel wie Thermalquelle. Laut Wikipädia soll Tauplitz nach einer Überlieferung, deren Herkunft leider nicht genannt wird, an einer warmen Quelle erbaut worden sein, die später durch einen Erdrutsch verschüttet wurde. Im Lieglloch selbst sind urgeschichtliche Funde nomadischer Jäger mit einem vermuteten Alter von ca. 50.000 Jahren nachgewiesen.

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde auf dem Reithartl-Hof am südostlichen Abhang des Reithartl Kogel noch Getreide angebaut und von Hand geschnitten. Damit waren etwa 7 bis 8 Schnitterinnen beschäftigt, denen die Sage der Wildfrauen noch geläufig gewesen sein muss, denn sie scherzten öfter, dass sie wieder einmal zur Jause ins Haus gehen müssten, damit die „Kogeljungfrauen“ für sie das Getreide fertig schnitten. (Erzählung von Hans Steinbrecher, vlg. Reithartl, geb. 1924, der diesen Teil der Sage noch kannte; Bad Mitterndorf, 24. 3. 2006)

Die Wiesen auf der Südseite des Reithartlkogel dürften auch archäologische Spuren bergen, denn nach Auskunft von Hans Steinbrecher hatte er dort beim Drainagieren öfter alte verrostete Metallgegestände, insbesondere Hufeisen, ausgegraben.

Die Sage des Schrattel von Pürgg ist eine opulent ausgeschmückte, eigentlich eher märchenhaft anmutende Erzählung, die dennoch viele Elemente alter Mythen enthält. Neben der Einflechtung der Sage von der Weißen Gams mit den Silberkrickeln am Grimming finden wir hier den keltischen Mythos der Jagd, bei der es um die Erneuerung des Lebens und der Fruchtbarkeit durch die heilige Hochzeit von jungem Heros und Göttin mit gleichzeitiger Tötung des alten Heros geht. Auch der mythische Rabe (Schrattel) als Verbindung zur Unterwelt kommt hier vor. Vielleicht war auch in Pürgg ein solches Fruchtbarkeits-Heiligtum, dafür würde auch die Auswahl des Platzes für die älteste christliche Kirche der Region, der Johanneskapelle in Pürgg, sprechen, denn bekanntlich wurden Kirchen sehr oft auf oder neben den alten heidnischen Heiligtümern erbaut, was logisch erscheint, denn Frömmigkeit war und ist bei allen naturverbundenen Völkern bis heute mit bestimmten „Orten der Kraft“ verbunden.

Die Sage vom Steirerseeteufel dürfte eine christlich dämonisierte Variante der oben erwähnten heiligen Hochzeit sein, denn der hier beschriebene Teufel ist eigentlich nicht gerade ein Bösewicht, denn ausser dass er eine Sennerin glücklich macht, gestaltet er auch noch die heutige Landschaft durch Zerreissen von Felsen und schafft eine lebenswichtige Quelle, wie es der gehörnte Gott der Kelten typischerweise tat – demnach könnte auch die Tiefenbach-Quelle bei Tauplitz einst ein Quellheiligtum gewesen sein. Sein beschriebener Hohlrücken ist auch Merkmal der Wildfrauen in vielen alpenländischen Sagenvariationen. Einen ähnlich dämonisierten Bericht über ein vorchristliches Fruchtbarkeitsritual könnte auch die Sage vom Almtanz mit dem Teufel sein, hier kommt sogar noch ein Druide in Gestalt eines weisen Einsiedlerpriesters vor, der ordnend in das ekstatische, an das keltische Beltaine-Fest erinnernde Ritual eingreift.

So sehen wir in unseren Sagen eine deutlich mehr als tausendjährige Überlieferung vorchristlichen Glaubensgutes und ferner Hinweise auf mögliche lohnenswerte archäologische Forschungsziele!

Quelle: Sagenhaftes Hinterbergertal, Sagen und Legenden aus Bad Mitterndorf, Pichl-Kainisch und Tauplitz vom Ende der Eiszeit bis zum Eisenbahnbau, Matthias Neitsch. Erarbeitet im Rahmen des Leader+ Projektes „KultiNat“ 2005 – 2007.
© Matthias Neitsch