12.2 Der rote Seidenfaden von Zauchen

Der alte Hoanl in Zauchen brachte einmal von einer Reise nach Venedig einen roten Seidenfaden besonderer Art mit. Wo und wie er den Seidenfaden bekommen hat, das hat er nie gesagt. Wenn er den Faden um seine Leibesmitte band, war er stich- und kugelfest. Um dies zu erproben, stellte er öfters ein Messer so auf den Tisch, daß die Spitze nach oben ragte; dann schlug er mit der flachen Hand darauf, das Messer zerbrach in Stücke, die Hand aber blieb ganz unverletzt. Auch seinen Freunden hat er dieses Kunststück oft vorgeführt und dabei nach der Reihe alle Messer der Nachbarschaft zerstört.

In Wahrheit aber steckte der Teufel hinter diesem Kunststück, dem der Hoanl in Venedig seine Seele verschrieben hatte. Er sah den Teufel auch des öfteren, denn dieser spielte ihm immer wieder üble Streiche.

Einmal ging der Hoanl mit mehreren Burschen auf die Alm und blieb auf dem Rückweg zufällig allein etwas weiter zurück, während die anderen vorausgingen. Plötzlich kam er winselnd mit fast haushohen Sprüngen den Berg herab, übersprang die Burschen und schrie dabei in höchster Angst: Fangt’s mich, Burschen, fangt’s mich, sonst ist es mit mir zu Ende!“ – Die Burschen liefen ihm freilich gleich nach, konnten ihn aber nicht erwischen. Zum Glück für den Hoanl waren einige Burschen ziemlich weit vorne, und als sie ihn schreien hörten, wußten sie gleich, was los war. Sie stellten sich schnell mit großen Abständen in einer Reihe auf, und es gelang ihnen so, den springenden Hoanl zu fangen. – Der schrie wie am Spiess: „Ich bitt Euch um Gotteswillen, laßt’s mich ja nicht aus!“ Dabei zeigte er mit der Hand seitwärts und wimmerte dabei: „Schaut’s nur, dort geht der mit dem Pferdefuß und den Hörnern und will mich fangen! Laßt’s mich ja nicht aus!“ – Die Burschen sahen zwar nichts, fürchteten sich aber doch und eilten rasch ins Tal hinab, hielten ihren zappelnden und schreienden Kameraden fest und ließen ihn bis zu seinem Haus nicht mehr los. Dort legten sie ihn ins Bett und banden ihn dort mit Stricken fest. Dann holten sie Weihwasser und besprengten ihn damit so ausgiebig, daß er pudelnaß wurde. Die ganze Zeit über beteten sie laut, und so kehrte schließlich langsam Ruhe ein.

Der Grund für solche Vorkommnisse war, dass der Hoanl immer wieder versuchte, das in Venedig mit dem Teufel geschlossene Bündnis zu lösen, doch dieser wollte die versprochene Seele nicht so leicht freigeben.

Der Hoanl warf den roten Faden immer wieder weg, sobald er aber nach Hause kam, war der Faden immer wieder da. Er warf ihn ins Feuer, in dem der Faden zwar verbrannte, doch sobald das Feuer erlosch, lag der Teufelsfaden unversehrt in der Asche. Er warf ihn einmal in die Enns, der rote Faden aber war bald wieder da. Als der Hoanl einmal sein Leid einem frommen Priester klagte, fragte ihn dieser, ob er nicht irgendwo ein rotes Moos wisse. „Freilich“, antwortete Hoanl, „das Irdninger Moos wächst auf roter Erde.“ – Dann geh hin und vergrab den Faden drei Schuh tief im Irdninger Moos. Auf dem Wege hin und zurück aber darfst du kein Wort reden, darfst dich auch nicht umschauen, sonst bringst du den Faden nimmer los!“ so sagte der fromme Pater. Der Hoanl befolgte den Rat, und als er nach Hause kam, war der rote Teufelsfaden wirklich verschwunden. Nun durfte er freilich das Kunststück mit dem Messer nicht mehr wagen.

Als die Franzosen ins Land kamen, hätte der Hoanl den roten Seidenfaden gerne wieder gehabt, dann wäre er ja wieder „kugelfest“ gewesen. Er wollte den Faden ausgraben, fand aber die Stelle nicht mehr, aber er hätte den Faden ohnehin nicht mehr gebraucht.

Der französische General hatte nämlich seinen Soldaten versprochen, daß sie in Hinterberg frei plündern dürfen. Als aber der Pfarrer in feierlicher Prozession mit dem Allerheiligsten den Franzosen im Pass Stein entgegenzog, bat er den General inständig, er möchte seinen Soldaten das Plündern und Morden verbieten. Nun zog der General auf Fürbitte des Pfarrers sein früher gegebenes Versprechen zurück. Die Franzosen haben dann in Hinterberg keinem Menschen etwas getan und gestohlen haben sie auch nichts. Jetzt war der Hoanl wieder froh, daß er seinen roten Seidenfaden nicht mehr gefunden hatte.

An der Heilbrunnstraße, an der Abzweigung Grubegg, neben der Hackenschmiede, steht heute noch das „Franzosenkreuz“ oder „Hackenschmiedkreuz“, das an den friedlichen Durchzug französischer Truppen auf kirchliche Fürbitte hin erinnert. Napoleons Truppen zogen übrigens mehrmals durch Hinterberg, und nicht jedes Mal ging es ohne Plünderungen und gewaltsame Übergriffe ab. So erzählt man in Mitterndorf noch heute, dass der „Jungfrauenturm“ am Reithartlkogel am Eingang zum Öderntal nicht nur wegen der „Kogeljungfrauen“ oder „Kogelfrauen“ (die Wildfrauen) so heiße, sondern weil es in dieser Zeit drei Bauerngehöfte in dieser Gegend gegeben haben soll, und zwar jeweils einen im Krautmoos, im Rohrmoos und im Peterwirtsanger. Diese Höfe sollen von den Franzosen geplündert und niedergebrannt und die Bewohner getötet worden sein. Eine Wiese in dieser Gegend heißt noch heute „Franzosenwiesel“. Die Bewohner der drei Höfe hätten angeblich am Jungfrauenturm ihre Frauen vor den Feinden versteckt gehalten. (Information von Adolf und Roswitha Marchner, vlg. Pinter, Bad Mitterndorf, 3. Jänner 2006, Notiz von Neitsch)

Quelle: Sagenhaftes Hinterbergertal, Sagen und Legenden aus Bad Mitterndorf, Pichl-Kainisch und Tauplitz vom Ende der Eiszeit bis zum Eisenbahnbau, Matthias Neitsch. Erarbeitet im Rahmen des Leader+ Projektes „KultiNat“ 2005 – 2007.
© Matthias Neitsch