11.2 Die Spinne im Pass Stein

Durch die Enge des Passes Stein, in dem heute das Wasser für das Kraftwerk bei St. Martin aufgestaut wird, führte einst nur ein einsamer Fußweg von Mitterndorf in das Ennstal. In dieser Gegend hielten sich gerne Räuber auf, und in dem einzigen Wirtshaus, das nicht weit von den heutigen Bootshütten in der Nähe der Einmündung der Salza in den heutigen Stausee stand, kehrte verdächtiges Gesindel ein. So mancher Wanderer mußte hier sein Leben lassen, und alte Leute entsinnen sich noch der Bildstöcke, die zur Erinnerung an Ermordete gesetzt worden waren. Früher befand sich oberhalb des ehemaligen Salzafalles, nahe der heutigen Staumauer, eine kleine Grottenkapelle, die heute vom Stausee überflutet ist. Oberhalb davon befindet sich ein Marienbild. Manche Sagen knüpfen sich an die wunderbare Hilfe der Mutter Gottes „Durch den Stein“.

Einmal war ein junges Mädchen, das einen Besuch in Mitterndorf gemacht hatte, auf dem Heimweg ins Ennstal durch die gefürchtete Enge des Salzaflusses, im Volksmund auch „durch den Stein“ genannt. Sie war schon einige Zeit an dem verrufenen Wirtshaus vorbei, und ging eben über die höchste Stelle der Schlucht, den „Hochbrucker", als sie merkte, daß zwei Männer sie verfolgten. Angstvoll lief sie mit allen Kräften, und mit viel Geschick und auch Glück gelang es ihr immer wieder, die Verfolger abzuschütteln, doch die Räuber waren schließlich doch schneller als sie. In ihrer höchsten Not wandte sie sich an die seligste Jungfrau Maria – und siehe da – plötzlich erblickte die junge Frau am Wegrand einen schmalen Felsspalt, und rasch schlüpfte sie in die kleine Höhle. Schon im nächsten Augenblick zog eine Spinne flink ihr Netz vor den Eingang. Die Verfolger wunderten sich, daß ihnen ihr Opfer, dessen sie sich schon sicher gewähnt hatten, auf einmal aus den Augen entschwunden war. Als sie an dem Felsspalt vorbeikamen, meinte der eine von beiden: „Hier ist sie vielleicht drinnen“, doch der andere entgegnete: „Das kann nicht sein, schau das Spinnennetz an, das hätte sie bestimmt zerrissen!“ Danach eilten beide weiter in die Schlucht hinein.

Das Mädchen hatte angstbebend in ihrer engen Felsenkammer diese Gespräche mitangehört und ein Gebet nach dem anderen emporgeschickt. Jetzt atmete sie auf und dankte Gott und der himmlischen Mutter für die sichtliche Hilfe, die ihr zuteilgeworden war. Und sie gelobte, wenn sie ohne Schaden heimkomme, hier im Steinpass ein Marienbild zu stiften. Noch wartete sie eine geraume Weile, bevor sie sich aus ihrem Felsspalt hervorwagte. Da bemerkte sie dann auch das Spinnennetz, das in kaum einer Minute auf wunderbare Weise entstanden war und dem sie ihre Rettung verdankte. Sie warf einen innigen Dankesblick darauf - dann aber eilte sie rasch nach Hause ins Ennstal.

Das Mädchen hat ihr Versprechen eingelöst. Schon ein Jahr später konnte jeder, der durch den Steinpaß kam, in der Nähe des Felsversteckes ein schönes Marienbild bewundern und verehren. Und später, als die Frau schon längst gestorben war, ließen Pfarrer Stöger und der Arzt Dr. Lobenstock das Muttergottesbildnis würdig erneuern, und es entstand eine Andachtsstätte, zu der jährlich gläubige Menschen wallfahren. Der alte Weg durch den Pass Stein wurde beim Kraftwerksbau unter Wasser gesetzt. An der Straße, die später am Ufer des Stausees in die Felsen gesprengt wurde, jedoch wegen Lawinen- und Steinschlaggefahr meistens gesperrt ist, hängt das Marienbild noch heute.

Eine andere Sage erzählt, daß einst ein Viehhändler, der mit wohlgefülltem Geldsack den einsamen Pass Stein durchwanderte, von zwei verwegenen Strolchen heimlich verfolgt wurde. Um ihnen zu entgehen, kroch er in eine enge Felsspalte knapp am Weg, um sich dort zu verstecken. Eine große Kreuzspinne war eben dabei, ihr Netz vor den Eingang der Spalte zu spinnen. Als die Räuber nach längerem Suchen auch zur Felsspalte kamen, hatte die Spinne inzwischen ihre Fäden kreuz und quer von einer Wand zur anderen gezogen. Schon wollten die Strolche in die Höhle eindringen, bemerkten jedoch das unversehrte Netz und gingen nach kurzer Beratung weiter. Sie glaubten nämlich, daß die Fäden zerrissen sein müßten, wenn der Verfolgte sich in der Höhle versteckt hätte.

Der Kaufmann war gerettet und ließ später aus Dankbarkeit für die glücklich überstandene Gefahr die Felsspalte erweitern und in der so entstandenen Grotte eine Kapelle einrichten.

Quelle: Sagenhaftes Hinterbergertal, Sagen und Legenden aus Bad Mitterndorf, Pichl-Kainisch und Tauplitz vom Ende der Eiszeit bis zum Eisenbahnbau, Matthias Neitsch. Erarbeitet im Rahmen des Leader+ Projektes „KultiNat“ 2005 – 2007.
© Matthias Neitsch