10.5 Die Zigeunersalbe von Obersdorf

Die Zigeuner können mehr als Birnsieden, soviel ist sicher. Der Donner in Obersdorf hatte einmal eine Salbe, und wenn er damit die Haustüre beschmierte, dann konnte sein Haus nicht abbrennen. Er durfte die Salbe aber erst benützen, sobald es in der Nachbarschaft gebrannt hat, sonst nützte sie ihm nichts. Diese Salbe hatte sein Vater von einer alten Zigeunerin bekommen, und das war so zugegangen:

Als der alte Donner einmal spät in der Nacht nach Hause ging, traf er neben dem Weg eine Zigeunerin, die dort lag, nicht mehr weiter konnte und herzerweichend jammerte. „Was ist denn mit dir?“ fragte er und ging mitleidig auf die alte Frau zu. „Übern Zaun bin ich gefallen, und dabei hab ich mir den Fuß verrenkt“, antwortete die Alte. „Da auf dem feuchten Boden und in der kalten Nachtluft kannst du nicht liegen bleiben“, sagte der Donner, hob die Frau auf und trug sie zu sich nach Hause. Der Donner war ein recht weichherziger Mann, dem sogar jedes Tier erbarmt hat, das in Not war. Er wollte gleich den Bader holen (Anm.: Bader waren früher heilkundige Leute, die sich mit Kräutern und Hausmitteln auskannten), die Zigeunerin aber hielt ihn auf und sagte, er solle ihr bestimmte Kräuter bringen, sie werde sich damit schon selber helfen. Er brachte ihr die Kräuter und wollte wissen, was die Frau damit macht. Sie verriet ihm aber nichts und bat ihn, er möge nur schlafen gehen, morgen könne sie schon wieder weiter wandern. Tatsächlich war der Fuß schon am folgenden Tag geheilt. Der Donner gab der Zigeunerin noch eine warme Suppe, bevor sie fortging. Als sie Abschied nahm, bedankte sie sich recht herzlich und sagte: „Silber und Gold habe ich nicht, womit ich deine Fürsorge vergelten könnte. Geld würde dir auch nicht viel nützen, denn du hättest es nicht lang. Deinem Haus steht aber ein Unglück bevor, und das will ich abwenden. In deiner Nachbarschaft wird Feuer ausbrechen – wann es geschieht, darf ich nicht sagen – und auch dein Haus soll in Flammen aufgehen. Wenn du noch rechtzeitig die Haustür mit dieser Salbe anstreichst, so hat das Feuer keine Macht mehr über dein Haus und es bleibt von der Gefahr verschont. Aber vergiss nicht: erst wenn die Gefahr schon sehr nahe ist, darfst du die Salbe benützen.“ Sie zog aus ihrem weiten Kittelsack eine Schachtel und gab diese dem Donner. In der Schachtel war eine weiße Schmiere gewesen und ein Papierstreifen dabei, auf dem allerhand geheimnisvolle Zeichen zu sehen waren. Nur kurze Zeit war vergangen, da brach in der Nachbarschaft Feuer aus. Der Donner sah, wie es anfing zu brennen. Er holte schnell seine Wundersalbe und strich damit die Haustür des brennenden Gebäudes an. Tatsächlich erlosch das Feuer schon bald wieder.

Quelle: Sagenhaftes Hinterbergertal, Sagen und Legenden aus Bad Mitterndorf, Pichl-Kainisch und Tauplitz vom Ende der Eiszeit bis zum Eisenbahnbau, Matthias Neitsch. Erarbeitet im Rahmen des Leader+ Projektes „KultiNat“ 2005 – 2007.
© Matthias Neitsch