Das Burgfräulein als Gespenst

Am Berghang unterhalb des Hauptgebäudes der Tabakfabrik, das ehemals ein Schloss war, stand eine verrufene Hütte, in dem niemand wohnen wollte, weil drinnen ein verwunschenes Schlossfräulein als Gespenst hauste. Alle 50 Jahre einmal darf das Fräulein sich selbst einen Erlöser suchen.

Ein solcher Tag war vor vielen Jahren gekommen. In der Geisterstunde hörte der Nachtwächter, der die Runde durch die Fabriksräume machte, ein lautes Jammern und Weinen. Schon glaubte er, dass eine Arbeiterin versehentlich eingeschlossen worden war, und durchsuchte deshalb eilig alle Räume. Plötzlich stand ein wunderschönes Mädchen in altertümlicher Tracht vor ihm und sprach: „Fürchte dich nicht. Ich bin das verwunschene Burgfräulein, und du kannst mich erlösen. In der dritten Nacht werde ich als Drache mit einem Schlüssel im Maul hier erscheinen. Du musst mir den Schlüssel entreißen, dann bin ich erlöst und werde dich zum Dank in die unterirdische Schatzkammer führen. Dort kannst du deine Taschen mit Gold, Silber und Edelsteinen füllen.“ –

In der dritten Nacht – zur Geisterstunde - stieg wirklich ein scheußlicher Drache über die Fabriksmauer und zeigte sich wild schnaubend dem Wächter. Diesen aber packte beim Anblick des Untiers die Furcht, so dass er eilends aus dem Tor hinaus und nach Hause lief. Hier musste er sich sogleich ins Bett legen und starb am dritten Tag. Die ausgestandene Angst hatte ihn getötet.

Die Leute wollen noch gehört haben, wie das verwunschene Burgfräulein ausrief: „Nun muss ich wieder fünfzig Jahre warten, bis mich vielleicht ein anderer Mensch, der tapferer ist, erlöst.“

Quelle: Brauner Franz (Hrsg.), Die Oststeiermark, in: Was die Heimat erzählt, Heft 11 S. 101 f., Graz 1953
Email-Zusendung Franz A. Rabl, Fürstenfeld, November 2008