IN DER CHRISTNACHT

In der Christnacht, zur Mettenzeit, ist dem Vieh die Gabe der Sprache verliehen. Da klagen sich die Tiere gegenseitig Freud' und Leid und besprechen mitunter selbst menschliche Verhältnisse.

In St. Georgen an der Stiefing erzählt man folgendes: Als Jesus Christus zur Welt kam, es geschah dies ja mitten in der Nacht, da freuten sich alle Tiere und verkündeten sich gegenseitig fröhlich in menschlicher Sprache seine Ankunft, die Geburt des Heilandes. Der Hahn schrie um Mitternacht plötzlich: Christus ist geboren! Der Hund fragte ihn: Wo, wo? Wo, wo? Die Ziege antwortete: Zu Bethlehem, zu Bethlehem. Die Henne aber sagte: Geht's nur gleich hin, geht's nur gleich hin! - Zur Erinnerung daran sprechen dies und anderes die Tiere heute noch in der Christnacht zur Zeit der Mette.

Wenn man sich die Ohren mit Weihwasser gut auswäscht und sich noch rechtzeitig, genau zur Zeit, während der Priester zum Altare schreitet, in eine Krippe legt, aber so, daß man von keinem der Tiere bemerkt wird, kann man diese reden hören und erfährt auch Zukünftiges.

Wenn das Rind in den Ställen jemanden bemerkt, daß er in der Christnacht sich in die Krippe legt, so nimmt es ihm das Leben, indem es ihn mit den Hörnern zu Tode stößt.


Quelle: Aus St. Georgen an der Stiefing, Stadl und Predlitz ob Murnau/Steiermark, Zeitschrift für österreichische Volkskunde 1, 1895, 243f.
Aus Will-Erich Peuckert, Ostalpensagen, Berlin 1963, Nr. 5, Seite 10