BERGMÄNNCHEN UND BERGMANNSKNABE

Auf einem freiliegenden Felsblocke, unweit des betriebsauren Marktes Eisenerz, saß ein hübscher, munterer Knabe, der Sohn eines armen, aber fleißigen Bergmannes, der tief unten in den Schächten des weltberühmten Erzberges arbeitete, um für sich und die Seinen den nötigen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Knabe saß sinnend auf dem harten Gestein und dachte, wie sein Vater und die anderen Arbeiter sich abmühen müßten, um in der dunklen Grube das Erz von den Wänden loszuschlagen; er dachte an die Wohltätigkeit und den Nutzen, den dieses Metall gewähre, und dachte auch daran, wie man den Erzberg, diesen unerschöpflichen Quell des Reichtumes des Landes, aufgefunden. Man hatte ihm erzählt von dem Wassermanne, der den Leuten, die ihn gefangen, für seine Loslassung den reichen Schatz des Eisensteines am Berge bekanntgegeben, dann aber auch sich geäußert habe, daß man ihn nicht um das Beste gefragt hätte, nämlich um die Bedeutung des Kreuzes in den Nüssen und um den Karfunkelstein. Was diese beiden zu bedeuten hätten, darüber grübelte nun der Knabe nach, doch er mochte auch nachdenken soviel er mochte, er konnte es nicht herausbringen.

Plötzlich stand vor ihm ein kleines Männchen mit einem braunen Kapuzenröckchen und einem langen, bis an die Knie wallenden, weißen Barte. Dasselbe betrachtete mit vergnügtem Kopfnicken den Knaben und sprach: "Du gefällst mir, lieber Kleiner! Du bist von fleißigen und frommen Eltern und selbst auch brav und folgsam. Will dir sagen, was du gerne zu wissen wünschest. Frage mich also!"

Der Knabe hatte das Männchen erstaunt angeblickt; er faßte sich ein Herz und fragte das Männchen um das, woran es soeben früher gedacht, nämlich um die Bedeutung des Kreuzes in den Nüssen, und was für eine Bewandtnis es mit dem Karfunkelstein habe. Diese sonderbaren Fragen aber machten das kleine Männchen ein wenig verlegen, es schien, als ob es gerade diese nicht erwartet hätte. Endlich sagte es zu dem Knaben: "Gut, ich will dir diese Fragen beantworten. Weil aber dann damit gleich auch ein kostbares Geheimnis preisgegeben wird, welches eigentlich keines Sterblichen Ohr berühren sollte, so muß ich vorerst wissen, ob du auch dessen vollkommen würdig bist. Mache mir einen Schemel aus sieben Nadelholzarten! In sieben Tagen und sieben Stunden werde ich hier wieder erscheinen, und wenn du bis dahin die Arbeit zu meiner Zufriedenheit vollendet hast, erfährst du von mir die Bedeutung des Kreuzes in den Nüssen und des Karfunkelsteines. Aber merke dir, der Schemel muß aus sieben und nicht weniger Nadelholzarten gemacht sein, sonst ist alles vergebens." Nach diesen Worten verschwand das Männchen plötzlich vor den Blicken des Knaben.

Der Knabe suchte nun emsig nach den sieben Nadelholzarten, konnte aber nur deren sechs finden, nämlich die Fichte, Tanne, Lärche, Föhre, Zwergkiefer und Zirbelkiefer oder Arve. "Es gibt ja nur sechs Nadelholzarten! Da wird sich wohl das gute Bergmännchen versprochen haben," dachte sich der Knabe und arbeitete nun fleißig mit dem gesammelten Holze der sechs erwähnten Baumarten an dem Schemel. Endlich war selber fertig und wurde von allen, die ihn sahen, seiner zierlichen und kunstvollen Arbeit wegen belobt. Am bestimmten Tage und zur bestimmten Stunde begab sich nun der Knabe zur bewußten Stelle, wo er das erstemal den Berggeist erblickt hatte. Er war sehr vergnügt, denn er glaubte, den Willen desselben erfüllt zu haben, und hoffte daher, einen Aufschluß über seine beiden Fragen zu erhalten. Er brauchte nicht lange zu warten, so stand plötzlich das kleine Männchen vor ihm. Es lobte die zierliche und kunstvolle Arbeit, sagte aber dann: "Ich habe dir gesagt, der Schemel muß aus sieben Nadelholzarten gemacht sein, finde aber hier nur deren sechs. Die siebente Gattung, den Wacholder, hast du vergessen! Nun kann und darf ich dir den gewünschten Aufschluß nicht geben. Doch laß dich's nicht so sehr gereuen, du wirst, wenn du groß geworden und dich brav hältst, belohnt werden und den übrigen Bergleuten im Erzberge einen gleich großen Nutzen bereiten, als wenn du das Geheimnis des Kreuzes in den Nüssen und des Karfunkelsteines erfahren hättest." Hierauf verschwand das Männchen. Der Knabe, obwohl es ihm leid war, das Geheimnis nicht erfahren zu haben, nahm sich jedoch dies nicht gar zu Herzen, hatte ihn ja doch das Männchen damit getröstet, er werde seinerzeit seinen Mitarbeitern im Bergwerke einen ebenfalls wichtigen Dienst leisten.

Und so war es auch. Der Knabe war herangewachsen und ein emsiger und tüchtiger Bergknappe geworden. Als nun der Bergbau im Erzberge einstmals ins Stocken geriet und man schon allgemein befürchtete, selben auflassen zu müssen, fand er im Dorotheastollen mitten unter taubem Gesteine eine gediegene Erzstufe. Er schlug sie auseinander und gewahrte zu seinem Erstaunen auf der inneren Fläche, durch die Schattierungen der Farben des Flinzes dargestellt, ganz deutlich das Bild Mariens mit dem Jesukinde auf den Armen. Er zeigte diese Wunderstufe einem nebenstehenden Kameraden, und beide eilten nun damit zum Hutmann, der selbe den bereits mutlos gewordenen Gewerken überbrachte. Diese sahen hierin den Beweis eines höheren Schutzes für ihren Bergbau und begannen nun mit großer Zuversicht denselben fortzubetreiben. So hat sich des Bergmännchens prophetischer Ausspruch bewahrheitet.

Über das Kreuz in den Nüssen und den Karfunkelstein wissen die Bergleute noch zur Stunde nichts Bestimmtes. Nach ihrer Vorstellung steht ersteres mit dem Gebrauche und Nutzen des Kompasses im Zusammenhange, letzterer aber könnte, weil hellstrahlend, den Bergmännern in den dunklen Schächten für immerwährende Zeiten ein natürliches und wohlfeiles Grubenlicht geben.

Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911