BESTRAFTE HABSUCHT

Der Reichenstein bei Eisenerz, von dem sich die Leute erzählen, daß er alle Metalle enthalte, ist bekannt wegen seines Reichtums an seltenen Alpenblumen. Manche davon stehen als Heilkräuter beim Volke in großem Ansehen und werden daher von Kräutersammlerinnen und Wurzelgräbern viel gesucht und gepflückt.

So bestieg auch einst ein altes Weib den Reichenstein, um für einen Schwerkranken einige vom Arzte verordnete, heilkräftige Alpenkräuter zu pflücken. Unterwegs wurde die Kräutersammlerin von einem heftigen Platzregen überfallen und sie spähte nun umher, irgendeinen Unterstand zu finden. Da erblickte sie ober sich eine Höhle, kletterte zu derselben hinan und machte sich's nun im Innern derselben bequem. Mit einem Male schien es ihr, als ob von der Decke goldene Fichtenzapfen herabhingen. Sie riß einen solchen ab, und dann, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß er aus purem Golde sei, noch viele andere. Da die Kräutersammlerin für dieselben keinen Platz mehr in ihren Taschen hatte, schüttete sie die mühsam, ja mit Lebensgefahr in den Wänden des Reichensteins gepflückten Blumen und Kräuter aus der Schürze und füllte nun auch diese mit goldenen Zapfen, so daß sie selbe kaum mehr zu tragen vermochte.

Inzwischen war das Gewitter vorübergegangen und die Alte machte sich fröhlich auf den Heimweg. Aber kaum, daß sie die Höhle verlassen hatte, so wurden Schürze und Taschen immer leichter und leichter. Sie sah nach, ob sie nicht vielleicht beim Abstiege einige der Zapfen verloren hätte, und bemerkte nun zu ihrem größten Verdrusse, daß sich die goldenen Fichtenzapfen in wirkliche verwandelt hatten. Sie kehrte jetzt wieder um und stieg zur Höhle empor, um hier wenigstens ihre Kräuter wieder aufzulesen, fand aber zu ihrem Erstaunen dieselben nicht mehr. Hätte sich die Alte mit einigen wenigen Zapfen begnügt und die für den Schwerkranken bestimmten Heilkräuter nicht weggeworfen, so wäre sie reich geworden; so aber mußte sie wieder abwärts steigen ohne Goldzapfen und ohne Heilkräuter, und dies war die Strafe für ihren Eigennutz und ihre Habsucht.

Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911