DAS HALTERBÜBLEIN IM SCHLOß RABENHOF

Unmittelbar hinter St. Veit bei St. Georgen an der Stiefing stand ehemals ein Schloß, genannt Rabenhof, davon noch zu Anfang dieses Jahrhundertes einzelne Gemäuer übrig gewesen sind. In diesem Schlosse wohnte eine verwünschte Prinzessin; auch Schätze sollen hier in den Kellergewölben verborgen sein, nach denen viele Leute suchten und gruben, sie aber nicht finden konnten, weil die verwünschte Prinzessin ihnen hinderlich entgegenstand.

Als das Schloß noch ganz erhalten, aber schon von seinen Eigentümern verlassen worden war, sahen die Leute oft an einem der Fenster eine wunderschöne Jungfrau stehen, die in der Sonne sich ihr langes, reiches Haar kämmte. Ein sechsjähriges Halterbüblein, dessen Schafe in der Nähe des Schlosses weideten, sah die Erscheinung oft, ging, als er mit ihr gut bekannt geworden war, zuweilen zu ihr ins Schloß, oft aber kam sie auch zu ihm heraus, und dann plauderten die beiden mitsammen ganz vergnügt.

Einmal nun lud die Jungfrau den Knaben ein, mit ihr in die Kellergewölbe des Schlosses hinabzusteigen. Da, sagte sie, befinden sich viele Bottiche mit Gold und Silber, daraus er überall zweimal sich die Taschen füllen könnte, nur dürfe er davon nichts wieder in die Bottiche zurückfallen lassen, sich auch nicht umsehen und sich nicht vor den schwarzen Hunden fürchten, deren zwei bei jedem Bottich liegen und scheinbar immer größer würden.

Das Halterbüblein sagte zu, und die Jungfrau führte ihn in den Keller, wo ersterer alles so fand, wie sie es ihm vorhergesagt hatte. Ihm gefiel das glänzende Gold und Silber, obwohl der Knabe dessen Wert gar nicht kannte; auch vor den Hunden fürchtete er sich nicht, obwohl diese auf ihn zusprangen und dabei immer größer zu werden schienen. Also griff er in die Bottiche und füllte seine Taschen, blickte aber dabei um und sah nun, wie zwei Böse die Jungfrau mit ihren Messern erstachen. Da erfaßte ihn Grausen und Entsetzen und er floh aus dem Keller.

Später kam er noch oft in die Nähe des Schlosses Rabenhof, sah aber die schöne Jungfrau niemals wieder. Und als er größer wurde, suchte er den Eingang zu den Kellern zu finden, doch konnte er ihn nicht finden. Und so harren die Schätze noch desjenigen, der da berufen sein wird, sie heben und allenfalls die verwunschene Prinzessin erlösen zu können.

Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911