DER GLOCKENGUß ZU MARBURG

In Marburg wütete die Pest und raffte zahlreiche Opfer dahin; auch Feuersbrünste entstanden zu dieser Zeit und zerstörten zum größten Teile die Häuser der Stadt. Da machten die Bewohner ein frommes Gelübde, nämlich eine neue, große Glocke gießen zu lassen, und daraufhin blieb die Stadt von weiterer Heimsuchung verschont.

Der Guß wurde einem bewährten Meister übertragen, und dieser machte sich froh und freudig ans Werk. Doch der erste Guß mißlang. Zum zweiten Male ging er an die Arbeit, achtete genau und sorgsam auf alles, berechnete die Mischung und Menge des Metalls, jedoch vergeblich, denn auch dieser zweite Guß wollte nicht gelingen; es schien, als fresse die Flamme das Metall, immer weniger und weniger wurde dieses. Voll Verzweiflung rang der Meister die Hände. Zahlreiche Glocken hatte er schon gegossen; sie klangen im Drautale wie im Tale der Sann, riefen die Gläubigen zum frommen Gottesdienste, verkündeten Freud und Leid. Und gerade diese neue Glocke sollte nicht gelingen?

"Der Himmel will nicht, daß die Glocke werde!" riefen die Bewohner der Stadt, welche zahlreich herbeigeeilt waren, um in der Werkstätte des Meisters dem Gusse beizuwohnen und sich dann zu freuen, wenn das Werk gelungen, und die nun mit Entsetzen sahen, wie die feurige Masse immer geringer wurde. "Der Himmel will nicht, daß die Glocke werde!" riefen sie und fielen demütig nieder, beugten ihre Knie vor dem Herrn, auf daß er dem Werke und der Stadt gnädig sei. Und aus der Schar der Bestürzten trat einjunges, tugendhaftes Weib hervor, riß den blinkenden Silbergürtel vom prächtigen Gewande, das ihren Leib umhüllte, und warf ihn in den Kessel, darin die eherne Glockenspeise als feurigflüssige Masse kochte. Dieses schöne Beispiel wirkte. Jeder riß vom Kleide, was er an Schmuck aus edlem Metalle am Leibe trug. Mütter, Jungfrauen, Greise und Jünglinge schleppten alle ihre Silberschätze herbei; Spangen, Ringe, Münzen, ja selbst die kostbarsten Prunkgefäße wanderten in den Kessel. Und als ob dem Herrn des Himmels dieses Opfer wohlgefällig wäre, hörte nun die Glockenspeise auf, immer weniger zu werden, es schmolz das Silber und vereinigte sich mit dem übrigen Metalle so, daß nun alles zum Gusse vorbereitet werden konnte.

Andachtsvoll betend, harrte die Menge der Vollendung des Werkes, und als der Guß gelungen, als der Meister die Form zerschlagen hatte und nun die Glocke in ihrem Glanze sich den Augen der Anwesenden zeigte, ertönte lauter Jubel, erschollen fromme Dankeslieder.

Der Tag, an dem die Glocke emporgezogen werden sollte, war ein Festtag für die Bewohner der Stadt und der Umgebung. Alles eilte im Festgewande herbei, um der Feier beizuwohnen. Alle Vorbereitungen waren auf das sorgfältigste getroffen, die stärksten Stränge ausgesucht worden, um die große Glocke emporzuziehen. Aber wieder schien es, als zürne der Himmel, als sei er noch nicht ganz besänftigt durch die gebrachten Opfer. Denn es riß der erste Strick, dann der zweite und der dritte, so daß die schwere Glocke nur mehr an einem Strange hing, gleich einem Zentnergewichte an einem dünnen Zwirnfaden. Bestürzt wich die Menge nach allen Seiten aus und floh, konnte ja doch die Glocke jeden Augenblick in die Tiefe stürzen. Nur die Schar der weißgekleideten Festjungfrauen blieb; betend warfen sich die frommen Mädchen auf die Knie, und es war, als hätte ein Engel das Flehen der Unschuld vor den Thron des Allbarmherzigen getragen. Denn siehe, die Glocke hob sich höher und höher an dem einzigen Strange und rasch wurde sie dann zum Turmfenster hereingezogen.

Bald darauf zeigte ihr eherner Klang an, daß der Himmel nicht mehr zürne. Und seitdem läutet sie den Bewohnern der schönen Stadt am Draustrande zum Gottesdienste, zur Festesfreude wie zum bitteren Leide.

Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911