DER WILDE MANN VON WILDON

Auf dem Wildonerberge hauste einst ein Riesengeschlecht. Es waren wilde Männer, welche große Bäume entwurzelten, mächtige Felsblöcke umher' schleuderten und als Keule Baumstämme führten.

Der letzte dieses Geschlechtes, insgemein der wilde Mann genannt, trieb es am ärgsten, so daß die Bewohner der Ortschaft Wildau am Fuße des Berges sich weder zu raten noch zu helfen wußten. Wohl dachten sie daran, den schrecklichen Riesen unschädlich zu machen, aber sie konnten ihm in keiner Weise beikommen. Sobald er nur im geringsten etwas merkte, daß die Leute gegen ihn Schlimmes im Schilde führten, trieb er es um so ärger und wütete so schrecklich, daß die ganze Gegend verwüstet wurde und die Bewohner immer mehr und mehr verarmten.

Einst stieg ein Wirtstöchterlein aus dem Tale zu des Riesen Behausung hinauf. Es wollte Schwämme suchen, nebenbei aber auch auskundschaften, was der wilde Mann tue. Dieser fand das Mädchen alsbald auf einer kleinen Ebene, redete es an und verlangte, es solle zu ihm ins Schloß kommen und ihm da die Wirtschaft führen. Anfangs entsetzte sich die Wirtstochter über die Zumutung, aber da sie sonst beherzt und schlau war, so dachte sie sich: "Wenn ich es ihm abschlage, so behält er mich mit Gewalt zurück; bleibe ich aber, so kann es mir vielleicht gelingen, den furchtbaren Mann unschädlich zu machen und so uns alle von diesem Schrecklichen befreien." Also sagte das Mädchen zu, jedoch wollte es früher noch die Eltern fragen, ob sie damit einverstanden seien, daß es bei ihm in den Dienst trete. Der Riese hatte nichts dagegen, und so eilte das mutige Mädchen den Abhang hinab, setzte den Eltern alles auseinander und stieg des andern Tages wieder den Wildonerberg hinan, um fortan in der Nähe des Riesen zu verweilen.

Mehrere Tage und Wochen vergingen, ohne daß es dem Mädchen möglich gewesen wäre, sein Vorhaben auszuführen. Aber als dann einmal der wilde Mann sehr ermüdet von einer Jagd zurückkam und sich niederlegte, um zu schlafen, verwundete ihn das Mädchen mit einer Stricknadel an der Schläfe. Anfänglich verspürte der Riese gar nichts, denn sein Schlaf war ein sehr tiefer, aber nach und nach nahm der Schmerz doch so überhand, daß er aufwachte, wie toll nach dem Mädchen herumfahndete und, als er dieses nicht mehr im Schlosse vorfand, in seiner Wut einen großen Steinklotz nach dem anderen vom Berge losriß und in das Tal hinabschleuderte. Doch die Wunde war tödlich, und es konnte der wilde Mann nicht lange seinem Zorne auf solche Weise Luft machen. Erschöpft sank er zu Boden und hauchte bald darauf seinen Geist aus. Als die Ortschaft Wildau später zu einem Markte erhoben wurde, nahmen die Bewohner desselben zur Erinnerung an das Geschlecht der Riesen, welches hier gehaust hatte, den wilden Mann in das Marktwappen auf, und aus dem Worte Wildau entstand dann auch der Name Wildon, wie der Ort noch heutzutage heißt.

Zuweilen zeigte sich der wilde Mann auf dem Wildonerberge, doch nicht als Plagegeist, sondern als Beschützer der Bergbewohner. So erschien er einmal als ein riesengroßer Greis mit weißem, herabwallendem Barte einem Knaben, der anstatt zur Kirche, den Berg hinangegangen war. Er führte ihn in eine Höhle und zeigte ihm hier einige große, mit Moos bewachsene Fässer, welche voll des besten Weines waren. Der Knabe sollte davon kosten, doch er weigerte sich dessen, und da führte ihn der Geist wieder aus der Höhle und verschwand hierauf plötzlich.

Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911