DIE GLOCKEN VON TSCHRIETT UND ST. BARBARA

Von dem hinter Fraßlau sich erhebenden Berge Tschriett (Tschrett) blickt freundlich ein Marienkirchlein ins Sanntal herab. Im Turme dieses Gotteshauses soll nun vor Zeiten eine wunderbare Glocke sich befunden haben, deren Klang selbst in den fernsten Ländern vernommen wurde. Einst hörte auch ein Türke in Stambul den seltsamen Glockenklang. Dieser zog ihn mächtig an, und er folgte dem Geläute, das immer vor ihm herging. Nach langer Reise gelangte er schließlich in das Tal der Sann und vor das Kirchlein auf dem Tschriettberge. Da tönte die Glocke nochmals laut und mächtig, wie zum Scheidegruße, und verstummte dann. Wütend darüber, stürmte der Heide in die Kirche; er suchte die Glocke, die ihn bis hierher gelockt, doch konnte er sie nicht finden. Die Glocke war und blieb verschwunden; kein menschliches Auge sah sie mehr. Nur wenn ein Frommer hoch oben auf der Bergeshöh' sein Herz mit Inbrunst zu Gott erhebt, da tönt ihr Klang süß und lieblich an sein Ohr. So ist also diese seltsame Glocke, wenn auch für niemand mehr sichtbar, doch nur für Ungläubige, nicht aber für die Gläubigen verschwunden.

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Einst vernahmen die Bewohner des Draufeldes zu außergewöhnlicher Stunde das Geläute einer Glocke. Es schien vom Turme des auf einem der am linken Drauufer sich hinziehenden Hügel gelegenen kleinen Kirchleins St. Barbara herabzutönen; wenn man aber dann nach der Kirche hinhorchte, erscholl der Glockenklang gleich von einer anderen Seite her. Dies war nun sehr seltsam; die Leute im Drautale konnten es sich nicht erklären, und lange wußte man nicht, was dieses rätselhafte Geläute bedeuten sollte. Da beschlossen nun einige beherzte Bewohner der Gegend unter sich, dem Klange nachzugehen.

Es war zu Beginn des Frühlings. Die Sonne hatte schon fast allen Schnee von der Erde verschwinden gemacht, als die Bewohner des Draufeldes wieder das seltsame Geläute vernahmen. Da machten sich die Leute, welche sich verabredet hatten, auf und gingen dem Klange nach. Immer lauter tönte die Glocke, immer stärker, bis man endlich in einen Eichenwald zu einem Kreuze am Scheidewege gelangte. Jetzt schallte die Glocke gar mächtig und laut, wie noch nie zuvor. Die Männer sahen sich gegenseitig erstaunt an, wußten sich aber dies nicht zu deuten; sie blickten umher, sahen jedoch nichts als das Kreuz und ein Häuflein Schnee davor. Verwundert schüttelten sie ihre Köpfe und wollten wieder weiter. Da klang mit einem Male die Glocke leise und wehmütig, und es schien den Leuten, als dringe ihr Ton aus dem Schneehäuflein hervor. Nun fingen die Leute an, den Schnee wegzuschaufeln und zu gaben, und entdeckten, nur wenige Spannen unter der Erdoberfläche, den Leichnam eines Pilgers.

Unter dem fortdauernden Geläute der Glocke wurde der Leichnam, welcher bisher in der ungeweihten Erde gelegen, zur Kirche getragen, vom Priester eingesegnet und dann auf dem Friedhofe von St. Barbara zur ewigen Ruhe bestattet. Dabei klang die Glocke fort, ernst und traurig, und erst, als die letzte Scholle auf das Grab des unbekannten, namenlosen Toten gefallen war, verstummte das Geläute.

Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911