DIE WEIßE FRAU AM SCHÖCKEL

Der Bauer Wölferl in der Breitenau hatte einen hoffnungsvollen Sohn. Dieser hieß Sepp und war nicht viel über zehn Jahre alt. Alltäglich, wenn die Witterung es erlaubte, führte er die Schafe seines Vaters auf den nördlichen Abhang des Schöckels und hütete sie.

Einmal saß er so in der Einsamkeit auf einem umgestürzten Baumstamme. Ab und zu wandte er seine Blicke den unfern von ihm grasenden Tieren zu, dann aber starrte er wieder gedankenlos in das Blaue hinein. Plötzlich stand eine schöne Frauengestalt in blendend weißem Gewande vor dem Knaben, sah ihn liebreich an und sagte: "Lieber Junge! Wenn du beherzt bist und dich vor mir nicht fürchtest, so will ich dich reich machen." Aber Sepp war ein dummer, furchtsamer Junge. "A na, a na!" schrie er ganz entsetzt vor der seltsamen Erscheinung und eilte in einem Laufe heim ins elterliche Haus. Das war aber auch den Schafen zu dumm; sie dachten sich, wenn der Bube so davonlaufe, so brauchten sie auch nicht zu bleiben, und laut blöckend sprangen die einfältigen Tiere dem Sepp hintennach, so daß sie mit ihm zugleich vor der Hütte ihres Herrn ankamen.

Erschrocken trat der Bauer Wölferl aus dem Hause. Er glaubte, dem Knaben oder der Herde sei ein Unglück passiert. Als aber Sepp endlich, nachdem er zu Atem gekommen war, ihm erzählt hatte, was er gesehen und gehört, da kratzte sich der alte Wölferl hinter den Ohren und schalt den Buben recht weidlich aus.

So mir nichts dir nichts auf einmal reich werden zu können, das wäre dem armen Hinter-Schöckler ganz recht gewesen, und weil sein Junge dieses Glück versäumt hatte, so wollte er es selbst probieren. Wohl hatte auch er einige Furcht, aber er nahm sich zusammen, faßte Mut und trieb des andern Tages selbst seine Schafe auf die Weide. Hier harrte er nun klopfenden Herzens auf die Ankunft der weißen Frau. Plötzlich stand sie vor ihm und richtete die gleiche Frage an ihn. Obwohl nun der Bauer vor der hohen Frauengestalt, welche in ganz unerklärlicher Weise ihm erschienen, nicht minderen Schrecken empfand als sein Bub, antwortete er doch: "Schöne Frau! Vom Reichtum fürcht i mi nit, und i will schon das alls tuan, was ma sogn."

Darauf sagte die weiße Frau: "Ihr dürft aber ja nicht verzagen, denn ich werde Euch als Schlange erscheinen, mit dem goldenen Schlüssel im Rachen. Diesen Schlüssel müßt Ihr mir entreißen, dann bin ich erlöst und Ihr könnt damit die Tür zum Schöckelschatze öffnen!"

Der Bauer versprach auch dies, und darauf verschwand die Erscheinung. Der alte Wölferl schaute nun zur weißen Wand hin, in welcher der Schatz, von welchem er schon so vieles erzählen gehört hatte, liegen sollte, und wartete auf die Schlange. Auf einmal hüllte sich der Schöckel in dunkle Wolken, Blitze durchzuckten die Luft und heftige Donnerschläge erschütterten den Berg. Der Bauer bekreuzte sich, es wurde ihm angst und bange, und als er dann eine riesengroße Schlange mit dem goldenen Schlüssel im Rachen von der weißen Wand herab sich wälzen und zischend auf ihn zukommen sah, war es mit seiner Beherztheit ebenfalls aus. Er vergaß, was er der weißen Frau versprochen hatte, ihn lockte auch nicht der reiche Schatz, der ihm verheißen worden, sondern er nahm Reißaus und floh seiner Behausung zu. Ihm folgten seine Schafe und in ihr Blöcken mischte sich ein schallendes Hohngelächter, das vom Schöckel herabzukommen schien. Als der Wölferl endlich seinem Hause nahe war, blieb er stehen und sah sich um. Da war von all dem Spuk nichts mehr zu sehen, und der Berg tauchte wie sonst an schönen Tagen sein ehrwürdiges Haupt in des Äthers reinstes Blau.

Sagen aus der grünen Mark, Hans von der Sann, Graz 1911