Die tote Bäuerin

Der Eggenbauer aus dem Zillertal hatte rechtschaffen gut mit seinem Weibe gelebt; und als das Weib starb, tat es dem Manne von Herzen and. Er fand keinen Trost und beschloß, eine Wallfahrt zu tun, auf daß es der armen Seele zu nutz und ihm selbst zum Frieden gereiche. Also machte er sich auf den Weg, ging übers Duxer Joch, gegen Steinach zu; aber weil er so in Gedanken war, verging er sich und irrte lange herum, ohne den Weg wieder finden zu können. Da erschien ihm eine Weibsgestalt, die trug ein Lichtlein in der Hand; und wie der Mann sie anschaute, erschrak er in tiefster Seele, denn es war seine Entschlafene. Sie winkte ihm, zu folgen, und führte ihn auf den rechten Weg; darnach setzte sie sich auf einen Stein und sprach: "Jetzt wolln wir rasten." Der Mann aber vermochte vor Grauen nicht zu reden. Da nahm das Weib aus ihrem Fürtuch zwei kleine Schächtelein, die öffnete sie und gab aus dem einen ihrem Mann etwas zu kosten, - das schmeckte arg bitter. Darnach gab sie ihm auch aus dem anderen Schachtele zu versuchen - das schmeckte sehr gut und süß. Endlich getraute der Mann sich doch zu fragen, was es auf sich hatte mit den beiden Schächtelein und ihrem ungleichen Inhalt. Da sagte sie ihm: Das Süße in dem einen Schachtele bedeute ihre guten Werke, das Bittere in dem anderen aber alle bösen Taten, die sie auf Erden begangen hätte. Und ehe sie das letztere nicht ausgegessen hätte, käme sie an kein gutes Ort. Sie bat ihn noch, für sie zu beten und entschwand seinen Augen.

Hugo Grimm,  Die tote Bäuerin

Von da an wurde der Bauer immer ernster und nach innen gekehrter. Er trachtete eifrig nach guten Werken und folgte nach drei Jahren seiner Bäuerin in den Tod.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Bilder von Hugo Grimm, Innsbruck 1924, S. 174ff