Das ewige Eis

Auf den Höhen am Nordwesthang der Dolomitenberge soll vereinst die schönste, fruchtbarste Alpe gewesen sein, lauter grünendes, blühendes Wiesenland. Die Bauern, denen der Grund und Boden gehörte, wurden aber durch den reichen Ertrag, den sie davon hatten, übermütig und habgierig und sahen sich nie genug. In einem Jahre stand das Gras besonders schön, war auch glücklich geschnitten und lag gehäufelt auf der Hochwiese; da war es den Besitzern zu viel, daß sie einen einzigen Tag, nämlich den Großfrauentag, mit der Einfuhr des Grünfutters warten sollten. "Was wird sich die Muttergottes viel um's Heu bekümmern!" maulten sie, und machten sich daran, des hohen Feiertags ungeachtet, alles, was noch draußen lag, hereinzubringen. Als die Arbeit vollendet war, spotteten sie noch über die Entweihung des Festes und sangen:

"Großer Liebfrauentag her,
Großer Liebftauentag hin!
Die andern Habens Heu auf der Wiese,
Wir aber im Stadel drinn."

Hugo Grimm,  Das ewige Eis

Da fing es an zu schneien und zu schneien und hörte gar nimmer auf, und die Schneemassen, die vom Himmel fielen, verschütteten und bedeckten alles, was da war: Bauer, Heuwagen, die ganze Wiese. Hernach aber gefror das Schneefeld so fest, daß es die Sonne nie mehr auftauen konnte. Und das, was ehemals herrliches Wiesenland gewesen, ist heute ewiges Eis: der Gletscher der Marmolata.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Bilder von Hugo Grimm, Innsbruck 1924, S. 137f