Das Gras im Winter

Eine junge Dirne, hübsch und sittsam, hatte sich zur Ehe versprochen und nahm einen Soldaten. Der war ein scharfes und wildes Mannsbild, bei dem sie wenig gute Tage sah. Er hielt sie zu jeder knechtlichen Arbeit an, plagte sie mit unsinnigen Befehlen, und wehe ihr, wenn sie nicht alles nach seinem Willen zuweg brachte! Einmal mitten im Winter sprach er zu ihr: "Jetzt geh mir Heu holen für mein Roß! Tust dus nicht, so sollst du mein Schwert fühlen." Der armen Frau ward todangst, denn sie hatte weder Heu noch Geld, um es von anderen zu kaufen; und frisches Grünfutter gab es erst recht nicht. In ihrer Not fiel sie, da der Unhold sie verlassen, auf die Knie nieder, fing an, inniglich zu weinen und zu beten. - Siehe: da erschien ihr die Trösterin aller Bedrängten, Unsere Liebe Frau. Die sprach zu ihr gar holdselig: "Nun diene mir fleißig und in Treuen, so wird dir bald geholfen sein. Geh hinaus auf die Wiese und schneide das Gras, das dort sieht!" Die Frau, voll gläubigen Vertrauens, nahm Korb und Sichel und ging auf die Wiese. Da war der Schnee zergangen und stand hohes, blühendes Gras. Die Soldatenfrau dankte der Mutter aller Gnaden, schnitt sich Gras und brachte es ihrem Manne. Als jedoch der Wildling anstatt Heu das frische Gras sah, geriet er in Zorn und schalt sein Weib eine Hexe. Sie aber erzählte ihm, was ihr begegnet sei und bat ihn inständig, das Wunder mit eigenen Augen anzusehen. Endlich willfahrte er ihr, ging hinaus und meinte zu träumen, da er wirklich die Wiese voller Gras und Blumen erblickte. Das erschütterte ihn so, daß er von Stund an in sich ging, ein frommer Mann und seinem Weib ein braver Eheherr ward.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 58f