Das hl. Kreuz zu St. Leonhard

Bei St. Leonhard im Passeiertal liegt die Jaufenburg, die gehörte vor Zeiten den Grafen Fuchs. Ein Graf Fuchs tat einst mit zweien Dienern die Fahrt nach Palästina, um die heiligen Stätten zu besuchen. Da litten sie großes Ungemach zu Wasser und zu Lande, zuletzt gerieten sie von ungefähr in das Land der Ünangger; das waren Leute, die hatten nur ein Auge, nur eine Hand und nur einen Fuß. Dafür aber hatten sie an der Hand zehn Finger und am Fuß zehn Zehen. Die überfielen die drei Pilger und schleppten sie in eine tiefe Höhle - da wogen sie die Dreie, welcher von ihnen am schwersten wäre. Den einen Diener, der von allen der leidigste war, schlachteten sie und fraßen sein Fleisch. Darnach waren sie satt und gingen ihrer Wege; nur einen ließen sie als Wächter zurück. Außerdem lag in der Höhle noch ein Weibsbild, eine kranke Ünanggerin. Der Wächter aber hatte sich bei der Mahlzeit von Menschenfleisch übernommen, war faul und blinzte mit seinem einen Auge, bis er es ganz zutat und entschlief. Da ersah der Graf seinen Vorteil, entlief mit dem Diener, der ihm noch übrig blieb, der grausigen Höhle und eilte dem Meere zu. Dort fanden sie ein Schiff und sprangen hinein; aber kaum wollten sie vom Lande stoßen, da war die kranke Ünanggerin zur Stelle: die war hinter ihnen drein gehinkt, packte das Schiff mit ihrer zehnfingerigen Hand und wollte es festhalten. Der Graf besann sich nicht lange: er zog sein Schwert und hieb ihr auf einen Streich die Hand ab, die fiel in das Schiff. Nun fuhren die beiden ab, ruderten aus aller Kraft und kamen glücklich an die heiligen Orte. Hier dankte Graf Fuchs dem Herrn inbrünstig für die Errettung aus der drohenden Gefahr und tat das Gelübde, an der Stätte, die Gott ihm bezeichnen würde, eine heilige Kreuzkapelle zu bauen. Es gelang ihm, während er dort weilte, eine Partikel vom wahren Kreuz zu erhalten; die nahm er mit sich, um sie in der zukünftigen Kapelle einzusetzen.

Als der Pilgrim seiner Andacht überall genug getan hatte, machte er sich auf die Heimfahrt und achtete unterwegs fleißig auf das Zeichen, das er von Gott erbeten. Aber nichts, was darnach aussah, widerfuhr ihm auf der ganzen Reise. Er war eingeritten in sein heimatliches Passeiertal und am Fuß des Jausen angekommen, und noch immer hatte der Herr ihn keines Zeichens gewürdigt. Des war er betrübt und ritt mit traurigem Herzen den Schloßbühel hinauf. Da mit einmal stand sein Pferd still, bog langsam die Vorderfüße und verharrte in kniender Stellung. Da erkannte der Graf den Wink des Himmels und gelobte, an dieser Stelle die heilige Kreuzkapelle bauen zu lassen. Als er solches versprochen hatte, erhob sich das Roß und trabte mit ihm dem Schlosse zu.

Der Graf hielt sein Gelöbnis, und das Kirchlein, das er erbaut hat, sieht noch heutigen Tages. Die zehnfingerige Hand der Ünanggerin, die er auch mit sich gebracht hatte, ließ er in Stein abbilden und in die äußere Mauer der Sakristei einfügen.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 201ff