Der Rat des heil. Ivo

Es trafen sich einmal zwei Herren auf der Pilgerfahrt nach einem Gnadenort. Der eine war ein Weltgeistlicher, der andere war ein Pater Kapuziner. Unterwegs kamen sie von der rechten Straße ab und gerieten in einen wilden Wald fanden auch nicht mehr heraus, da es schon gegen Abend ging und bald das Dunkel einfiel. Der Weltgeistliche, ein etwas zaghafter, sanfter Herr, fürchtete sich nicht wenig und meinte: ohne besonderen göttlichen Beistand möchte ihnen leicht was Schlimmes zustoßen. Der Kapuziner aber blieb heiteren Sinnes und meinte: er pflege im Notfall stets seinen Schutz- und Namenspatron den heil Ivo, anzurufen; der helfe ihm dann jedesmal heraus. Unter solchen Reden tappten sie sich durch den Wald, stießen da an einen Baum stolperten dort über eine Wurzel, so daß sie nicht wenig froh waren, endlich von fern ein Licht scheinen zu sehen. Mit neuen Kräften steuerten sie darauf los, und wie sie zukamen, war es ein großes, hell erleuchtetes Schloß. Da hofften die beiden Wanderer gastliches Obdach zu finden; der Pförtner aber, als er sie sah, erschrak und sprach: "Ach, meine lieben frommen Herren, schaut doch, daß ihr schnell weiter kommt! Der Edelmann, dem das Schloß gehört, ist ein gewalttätiger, grausamer Mann, der seine Lust an Greueln aller Art hat. Und auf die Geistlichen gar hat ers abgesehen." Der arme Pfarrer meinte umzusinken; derweil aber hatte der Schloßherr droben schon das Türöffnen und die leisen Stimmen gehört und schickte einen Trabanten, um die Gäste heraufzuholen. Es half nichts: sie mußten gehorchen, und der Pfarrer betete ein Stoßgebet vor sich hin und befahl Gott seine Seele. Der Pater aber blieb auch jetzt getrost und raunte ihm zu: "Der heilige Ivo ist nicht umsonst der Schutzherr der Advokaten; merk auf, ob er mir nicht einen rettenden Kniff eingibt!"

Sie wurden in einen prachtvollen Saal geführt; da saß der Schloßherr inmitten seiner Vasallen und Kumpane beim Gelag. Er blickte die Fremden grimmig lächelnd an, hieß sie niedersitzen und ließ ihnen zu trinken bringen. Dann wurde auf seinen Wink ein ganzer, gebratener Kapaun vor die beiden hingestellt; da sprach der Edelmann höhnisch: "Nun gebt wohl acht auf welche Art ihr diesen Kapaun zerlegt und zerschneidet; denn genau so werde ich nachher euch tun." Der Weltgeistliche, bleich vor Entsetzen, beschwor ihn, ihrer doch zu verschonen und sich vor Gott zu fürchten; der Unhold aber lachte bloß. Der Pater hatte zuerst geschwiegen, dann tat er blassen die Frage: "Versprecht ihr mir, uns nur auf die Weise abzuschlachten, wie ich es jetzt mit dem Kapaun machen will? Und wenn ihr es nicht genau so nachmachen wollt oder könnt, sollen wir frei abziehen dürfen?" Darauf gab ihm der Schloßherr sein Wort und rief alle Anwesenden zu Zeugen.

Da nahm der Kapuziner den Kapaun in beide Hände, leckte ihn säuberlich ringsum ab und sagte: "Delikat, delikat!" Dann, mit einem herzhaften Mundaufsperren, biß er ihm den Kopf ab und verschlang den, wobei er nur den harten Schnabel ausspie.

Das sahen alle verwundert an, und der Schloßherr mußte sich außerstande bekennen, die Fremden auf gleiche Weise umzubringen. Die Tapferkeit und List des Kapuziners aber hatte ihm so gefallen, daß er die beiden Gäste ganz redlich speiste und herbergte und am Morgen ungekränkt entließ. Darnach vollbrachten die beiden glücklich ihre Wallfahrt, dankten Gott für die wunderbare Errettung und opferten dem heiligen Fürsprech Ivo eine dicke Kerze auf, weil er den Pater so gut beraten hatte.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 218ff