Die heilige Kümmernis
Ein heidnischer König in uralter Zeit hatte eine Tochter, die war so schön, daß eine schönere nicht mochte gefunden werden. Wer sie sah, der entbrannte in heftiger Hebe zu ihr, aber die junge Maid gab keinem Gehör und tat selbst nichts dazu, den Männern zu gefallen, vielmehr hielt sie sich demütig und bescheiden für sich. Denn sie hatte ihr Herz der Lehre Jesu Christi zugewendet und begehrte keinen andern zu minnen als ihn. Da sandte ein mächtiger Heidenkönig zu dem Vater der Jungfrau und begehrte sie zur Ehe, und der versprach sie ihm. Sie aber weigerte sich dessen; da geriet ihr Vater in großen Zorn und schwor, sie müsse es tun. Und damit sie nicht entränne, ließ er sie hart gefangen setzen. Da rief sie im Gefängnis zu Gott, daß er ihr helfe, und sie vor der Ehe mit einem Heiden bewahre. Darum möge er sie so verwandeln, daß sie keinem Manne mehr gefalle. Und Gott erhörte sie und ließ ihr Haar und Bart wachsen, gleich als einem Manne; da war ihre Schöne hin. Als nun ihr Vater sie ersah, ward er noch zorniger und fragte, wie ihr das geschehen sei? Da sprach die Tochter mit Freuden: ihr Gemahl, der Christengott, habe sie so gemacht. Ihr Vater aber versetzte: "So sollst du auch sterben wie dein Gott" - und gebot, sie ans Kreuz zu schlagen. Das litt sie willig und starb so den Kreuzestod.
Sankt Kümmernis - etliche nennen sie Wilgefortis - liegt in Holland begraben; aber ihr Bild zu ihren Ehren hängt in Kirchen auch dazuland. Einmal kam ein armer Loter, ein Geiger seines Zeichens, in eine Kirche in Tirol und sah das Bild der Märtyrin [Märtyrerin] und las ihre Geschichte; das rührte ihn und er geigte mit Andacht vor dem Bild, so gut er vermochte. Da warf ihm das Bildnis einen Schuh herab, der war von Gold. Er trug ihn zum Goldschmied; der aber sagte ihm ins Gesicht: er hab ihn gestohlen. Das Geigerlein sagte "nein", aber der Goldschmied rief Leute herbei, und wie sehr der Geiger seine Unschuld beteuerte, sie glaubten ihm nicht und wollten ihn hängen. Da bat das Geigerlein, daß sie ihn nochmals zu dem Bilde führten; das geschah, und da geigte er vor dem Bilde so lange bis ihm Sankt Kümmernis den anderen Schuh auch herabwarf. So erkannten alle, welch ein Zeichen geschehen war und ließen das Geigerlein mit großen Ehren ledig.
Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Bilder von Hugo Grimm, Innsbruck 1924, S. 90ff