St. Lucanus
Da St. Lucanus Bischof von Säben war, im fünften Jahrhundert nach unseres Herren Kunst, geschah es, daß eine greuliche Hungersnot und Teuerung das Land umher heimsuchte. Das erbarmte den frommen Bischof so, daß er nicht allein den Notleidenden nach Kräften beistand, sondern auch in billiger Erwägung der Zeitläufte während der vierzigtägigen Fasten den Genuß von Milch, Butter und Käse in seinem Bistum gestattete.
Es waren aber Neider und Mißgünstige, die verklagten den tugendlichen Bischof beim Papste Cölestin dem Ersten. Da ward St. Lucanus nach Rom entboten, sich vor dem Papste zu verantworten. Und als er fortzog, entstand ein großer Jammer unter dem Volk, denn sie fürchteten, den milden Seelenhirten nicht wiederzusehen. Er aber blieb getrost und verhieß ihnen mit Gottes Willen heimzukehren. Begleitet von einem Diener, machte er sich auf die Fahrt. Unterwegs, da sie durch einen Wald zogen, ließen sie, während sie rasteten, das Saumroß des Bischofs eine Weile frei grasen. Da kam ein großer Bär, der es zerriß. Als Lucanus hinzukam und es gewahrte, sprach er zu dem Bären: "Im Namen des Allmächtigen, der dich Kreatur der Wildnis erschaffen hat, gebiete ich Dir, daß Du mich aufsitzen lassest und fürder trägst." Da litt der Bär es willig, daß ihm Sattel und Zaumzeug angelegt ward und trug den heiligen Mann bis Rom, als das frömmste Reitpferd.
Zu Spoleto lehrten sie bei einem Gastwirt ein, der entschuldigte sich, daß sein Haus übel beraten sei, denn sein Weib liege an der Wassersucht schwer krank. Da begehrte Lucanus, daß man ihn zu ihr führte, und als dies geschah, kniete er am Bett der Kranken nieder und betete ibrünstig, daß Gott sie gesund werden lasse. Und zu. Hand ward die Frau gesund und alle, die es sahen priesen Gott.
Wie Lucanus mit seinem Diener nun weiter zog, fiel es dem frommen Greis
aufs Herz, daß er kein Geschenk hatte, dem heiligen Vater seine
Verehrung zubezeigen. Das ah er einen Schwarm Rebhühner aufstiegen
und rief ihnen zu: Ihr lieben Vögelein des allmächtigen Gottes,
Lucanus, der Diener Gottes, gebietet Euch, nach Rom zu stiegen, zu unserem
Vater, dem Papst." Und die Vögel gehorchten und nahmen ihren
Flug nach Rom. Als nun Lucanus selbst in der Stadt Rom anlangte, begab
er sich unverweilt zu dem Papst. Wie er vor dessen Antlitz trat, wollte
er, wie die Ehrfurcht gebot, seinen vom Regen durchtränkten Mantel
ablegen, aber in seiner Nähe war nichts, worauf er ihn hätte
hängen können. Da warf er den Mantel kurz entschlossen auf einen
Sonnenstrahl, der schräg durch das Fenster hereinfiel, und der Sonnenstrahl
trug ihn gleich als ein Nagel oder eine Stange. Wie der Papst das sah,
erkannte er, daß Lucanus in der Gnade Gottes war. Er sprach ihn
los von allem, was die Ankläger ihm Schuld gegeben hatten, und ließ
ihn gesegnet und reich beschenkt in seinen Sprengel zurückkehren.
Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 76ff