Pilatus

Um die Zeit von unseres Herrn Marter war der römische Kaiser Tiberius in eine böse Krankheit gefallen; er ist aussätzig gewesen am ganzen Leib. Weil kein Arzt ihm davon hat helfen können, so viel Gold der Kaiser auch gegeben hätte, hat er die Zeichendeuter und Wahrsager an seinem Hof befragt. Und einer war, der hat aus den Sternen herausgelesen, daß im Land Judäa ein Prophet aufgestanden sei, der heißt Jesus und macht alle Siechen auf Erden heil. Alsbald hat der Kaiser einen seiner vornehmsten Ritter ausgesandt, daß er ihm den weisen Arzt sollte herbringen.

Da der Ritter nach Jerusalem kam, ging er gleich zum Landpfleger, dem Pontius Pilatus, und verkündete ihm des Kaisers Begehr. Da ist der Landpfleger inwendig ganz ertattert vor Schrecken, denn just zuvor war der Herr Jesus am Kreuz gestorben und begraben. Das zu sagen hat sich der Landpfleger nicht getraut, sondern Ausreden gebraucht: daß er nachforschen will, und daß sich der Ritter ein paar Tage gedulden soll. Wie aber der Bote des Kaisers wieder herauskommt vom Landpfleger, da ist ihm eine Frau begegnet, die bitterlich weinte, das war die heilige Veronika. Dem Ritter hat sie erbarmt, und er hat gefragt, warum sie so weint? Da erfuhr er von der heiligen Veronika alles, was geschehen war: daß die Hohenpriester und Ältesten den lieben Heiland verklagt haben beim Landpfleger und daß der, aus Angst vor den Juden, ein ungerechtes Urteil gefällt hat und den Herrn hat kreuzigen lassen. Weil sie redete, sind ihr die hellen Tränen herabgeronnen, so hat sie sich gekränkt um unseres Herren bittren Tod. Der kaiserliche Sendbote aber war so voll Staunen und Schlecken, daß er ihr kaum hat glauben können. Da nahm ihn die heilige Veronika mit in ihr Haus und ließ ihn ihr Schweißtüchel sehen, in das der Herr Jesus auf dem Todesgang sein heiliges Antlitz hineingedrückt hat. Daran hat der Ritter erkannt, daß sie die Wahrheit sprach. Und er hat sich umgewandt und ist wieder heimgeritten zum Kaiser, dieweil er mit dem Pilatus nichts mehr wollte zu tun haben. Die Sankta Veronika aber und ihr Schweißtüchel hat er mit sich genommen.

In Rom ist der Bote vor den Kaiser getreten, der seiner mit Schmerzen wartete, und hat ihm gesagt: "Den großen Wundertäter, O Kaiser, kann ich dir nicht bringen, denn dein Landpfleger Pilatus hat ihn als einen Missetäter hinrichten lassen."

Da hat der Kaiser seine Kleider zerrissen und Wehe geschrien, daß ihm seine Hoffnung so zergangen ist. Es heißt aber, die heilige Veronika hab ihn getröstet, indem sie ihm das heilige Abbild auf ihrem Tüchlein gewiesen und ihn ermahnt, es recht mit Fleiß und festem Glauben anzuschauen. Der Kaiser hat nach ihren Worten getan und unverwandt das Antlitz unseres Herrn beschaut, und von der großen Andacht, mit der er es betrachtet hat, ist er zur Stund gesund geworden. Das aber war ihm ein Zeichen des großen Unrechts, das der Pilatus begangen, als er den Herrn Jesus zum Tod überliefert hat. Und die Feinde, die der Landpfleger hatte am Kaiserhof, haben die Gelegenheit genutzt und ihn hart verklagt als einen untreuen, ungerechten Mann. Da ist der Kaiser Tiberius in hellen Zorn entbrannt und hat nach der Provinz Judäa schreiben lassen, daß der Pilatus sogleich seines Amtes entsetzt werden und nach Rom gebracht werden soll, in einen tiefen Kerker.

Der Pilatus war zu Tod erschrocken über den Befehl. Bloß damit der Kaiser keine Ungnad faßt gegen ihn, wie's ihm die Juden vorgeredet haben, hat er ja sein Gewissen stillschweigen heißen und die schwere Blutschuld auf sich genommen. Aber jetzt hat keine Reu mehr geholfen;er hat gehorchen müssen und in das Gefängnis gehen. Dorten in der Einsamkeit ist er vollends nicht zur Ruhe gekommen; Gram und Scham haben ihn zernagt und ihm das Gemüt verstört. Und weil jetzt doch alles hin war, die zeitliche Ehr samt dem ewigen Heil, hat er's gemacht wie der Judas: er hat sich selber entleibt.

Alsbald haben die Teufel sich über den Leichnam hergestürzt und furchtbar damit umgetrieben, ihn zuerst in ein tiefes Wasser geworfen und dann in ein andres, unter grauslichem Getöse und Getu. Zuletzt haben ihn die bösen Geister verzückt und verzogen an eine einsame Statt hoch im Gewänd und versenkt in einen See, der zwischen den Bergen liegt. Etliche sagen: in der Schweiz drüben sei es, andere meinen: er liegt im Pillersee oder Sonnwendjochsee. Da im Etschland heißt es: der Pilatus steckt oben auf dem Vigiljoch bei Meran im Jochersee und leidet große Pein. In der Karwoche ist es am ärgsten: da brüllt er zuweilen wie ein wütiger Stier. Wenn der See recht wogt und rauscht, dann sagen die Bauern: der Pilatus und der böse Graf Fuchs, der auch im See liegt, raufen miteinander. Aber beten nutzt nicht, denn er ist an seinen Ort gebannt bis zum Jüngsten Tag.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 22ff