Die Kröte auf der Hohen Salve

Es war einmal ein schöner Jüngling von guten Gaben, aber allzuweichlich erzogen und gewöhnt, blindlings nach dem Gelüst des Augenblicks zu tun. So vergeudete er das Seine, geriet in verderbte Gesellschaft und ward schließlich ein Straßenräuber, ja der Anführer einer ganzen Räuberbande. Als solcher ward er von den Häschern eifrig gesucht, und sie trieben ihn so in die Enge, daß er Gefängnis und Galgen schon vor Augen sah. In solcher Bedrängnis tat er das Gelübde: wenn ihm Gott hülfe, dem Gericht zu entrinnen und irgendwo ein neues, ehrbares Leben anzufangen, so wollte er eine Wallfahrt zum Johanniskirchlein auf der Hohen Salve tun. Da half ihm Gott wunderbar, daß es ihm wirklich gelang, den Schergen zu entwischen und in Sicherheit zu kommen. Wie er nun der Angst ledig war und unangefochten leben konnte, vergaß er sein Gelöbnis, und es blieb unerfüllt, bis er starb. Zur Buße aber mußte er nach seinem Tode in Gestalt einer Kröte geistern, bis es ihm gelänge, von Baiern, wo er verstorben war, auf die Hohe Salve zu kriechen.

Die arme Kröte kam langsam vorwärts, hatte oftmals zu rasten und oftmals sich vor den Mißhandlungen unverständiger Menschen zu verbergen. Endlich erreichte sie doch, nach Jahr und Tag, den Gipfel der Hohen Salve. Aber nun handelte es sich darum, in die Kirche zu kommen, und das war das Schwerste; denn die Leute wollten die Kröte um keine Welt hineinlassen. Immer wieder ward sie mit Fußtritten von der Schwelle weggestoßen. Zuletzt gelang es ihr dennoch, unbemerkt in das Kirchlein zu schlüpfen; und dort kroch sie dreimal um den Altar. Da stand plötzlich vor den erstaunten Betern ein schöner Mann, der erzählte ihnen alles von seinem Räuberleben und seiner Rettung, und wie er sich darnach zwar gebessert und Buße getan, aber die gelobte Wallfahrt unterlassen habe. Und da er ihnen alles bis zum letzten kundgetan hatte, verschwand er, denn nun war er erlöst.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 182ff