Vom umgehenden Schuster

Der ewige Jude, Ahasverus geheißen, hat sich bekanntlich schon in den verschiedensten Ländern und Gauen blicken lassen; so ist er auch in Tirol, wo er gemeinhin der "umgehende" oder "laufende" Schuster genannt wird, mehr als einmal zugekehrt. In Brixen ist er gesehen worden, wie er gedankenvoll und schwermütig von der Eisackbrücke ins Wasser gestarrt hat; seine Schuhe und Kleider waren über und über bestaubt. Zweimal hat er in Wildschönau genächtigt beim Lammer und beim Baumgart in der Niederau. In Windischmatrei hätte er auch einmal über Nacht bleiben wollen, aber an jeder Tür, wo er anklopfte, haben sie ihn weitergeschickt. Da hat er ihnen seinen Fluch gegeben und ist hinüber in den Weiler Feld, wo er gut aufgenommen ward. Er hat aber sein Essen im Gehen verzehrt und ist in der Stube gewandert die ganze Nacht. In der Frühe nahm er dann einen Rock und schleifte ihn durch den Melitzgraben herunter; davon soll es herrühren, daß der Wasserguß, der zuvor jedes Jahr aus dem Melitzgraben kam, den Weiler Feld verschont, dafür aber aus dem Bürgergraben kommt und Windischmatrei schon öfters heimgesucht hat.

Wie die große Stadt, die vordem auf der Gand nahe von Kaltern gestanden, zur Strafe ihrer Sünden und Frevel untergegangen war, hat der laufende Schuster bei seinem zweiten Gang um die Welt sie vergeblich gesucht, und die hellen Tränen sind ihm übers Gesicht geronnen.

So oft der Schuster an einer Kirche oder Kapelle vorbeikam, wo gerade Gottesdienst war, ist er zur Tür hingestanden, hat, wenn immer beim Amt oder Rosenkranz der heilige Namen Jesu genannt worden, aufgeseufzt, sich tief geneigt und an die Brust geschlagen. Er ist auch nie an einem Bild des gekreuzigten Herrn vorübergegangen, ohne zu verweilen davor. Das Kruzifix an der Töll, das auf dem Wasser dorthin geschwommen ist und die wunderbare Eigenschaft hatte, daß ihm, wie einem lebendigen, die Haare gewachsen sind, hat der Schuster lange angeschaut und gesagt: es sehe unserem Herrn auf und nieder gleich. Nachher waren die Leute so dumm und haben dem Kruzifix den Hals, der ihnen zu lang erschien, verkürzt; da hat das Wachsen der Haare alsbald aufgehört.

Noch hat sich in uralter Zeit der umgehende Schuster im Stanzertal gezeigt, bei Strengen, wo das sogenannte Stopferkreuz mit dem Herrgott davor steht. Der Christus vom Stopferkreuz läßt allmählich und unmerklich sein Haupt immer tiefer sinken; es heißt, wenn er es bis auf die Knie herabsenkt, geht hie Welt unter. Vor dem Kreuzbild ist der umgehende Schuster auch gestanden und hat geschaut und geschaut und sich nicht trennen können davon. Wies Nacht geworden ist, haben die im Hirnerhäusl in Strengen ihn über Nacht gehalten; er hat sich aber nicht niedelgegt, sondern ist um den Tisch in der Kammer in einem fort herumgegangen und war in aller Herrgottsfrühe schon wieder beim Stopferkreuz. Den Leuten, die aufs Feld gingen, hat er gesagt: er hätte noch kein Bild gesehen, das Christo so ähnlich wäre, wie dieses. Dabei ist ihm vor innnerlicher Bewegung der helle Schweiß herabgeronnen; er hat sich niedergesetzt, als wollte er ein wenig rasten, aber gleich hat es ihn wieder aufgetrieben; er nahm seinen Stab und wanderte fort, dem Arlberg zu.

Der umgehende Schuster wird beschrieben als ein langer, hagerer Mann, den man nicht ankennt ob er alt oder jung, weil er ausschaut wie aus braunem Holz geschnitzt. Haar und Bart, Gewand und Schuhe sollen ihm so bestaubt sein wie einem Müllerburschen. Die Geschichte seiner Versündigung wird verschieden erzählt. Die einen sagen, daß er von denen war, die vor dem Landpfleger Pilatus am lautesten ihr -. "Kreuzige, kreuzige ihn!" geschrien haben. Darnach, wie unser Herr mühselig sein schweres Kreuz geschleppt hat, hätte er einen Augenblick an des Schusters Türpfosten rasten mögen; das hätte der Ahasver nicht gelitten, sondern ihn mit Fäusten weggestoßen. Da hat ihn der Heiland angeblickt und gesprochen: "Ich will stehen und ruhen; du aber sollst wandern, bis ich komme." Seitdem muß er wandern, der Schuster. Andere erzählen: in der Angst und Wut wäre er dem Zug noch hinterdrein gelaufen zur Richtstatt, hätte auch selbst mit Hand angelegt bei der Kreuzigung unseres Herrn; erst darnach, da der Herr Jesus verschieden war, hätte er seine Schuld eingekannt. Seither ist er alle Länder und Meere ausgegangen, hat immer gemeint, daß endlich doch ein Ende werden, und daß er einmal sterben wird. Aber der Tod hat ihn verschont.

Es heißt: dreimal muß der herumgehende Schuster den Gang um die ganze Welt machen; dabei muß er von drei Schritten, die er macht, immer zwei rückwärts tun. Wenn er den Gang zum drittenmal vollbracht hat, ist der Fluch von ihm genommen, und er kommt ins Tal Josaphat. Dann bricht der Jüngste Tag mitsamt dem Weltgericht herein.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 26ff