Unsre Liebe Frau im finstern Wald

Unweit Landeck lebten vor Zeiten ein Mann und eine Frau, die hatten zwei herzliebe Kinder, einen Buben und ein Mädchen. Die Kinder waren schon groß genug, daß sie für sich allein im Freien spielten, während die Eltern auf dem Felde arbeiteten. Einmal aber, als diese heimkamen, sahen sie die Kinder nicht. Da ging die Mutter, um sie zum Essen zu rufen, fand sie nirgends und geriet darob in große Angst. Sie sagte es ihrem Manne und er half ihr suchen, jedoch vergeblich. So irrten sie den ganzen Tag umher: ihre Stimmen waren heiser vom Rufen und Schreien und ihre Augen so müde vom Weinen wie ihre Füße vom Gehen. Sie dachten nicht anders, als daß ihre Kinder nicht mehr am Leben wären, daß sie sich verlaufen und irgend einen jämmerlichen Tod gefunden hätten. Zuletzt kamen sie an eine kleine Waldkapelle, die war geheißen zur Jungfrau im finstern Wald. Da sagte die Frau zum Manne: "Wir wollen in das Kirchl gehen und die liebe Gottesmutter bitten, daß sie sich unser erbarmt." Das gefiel dem Manne und erfüllte ihn mit neuer Hoffnung. Also gingen sie in das Kirchlein, knieten vor dem Altare nieder, auf dem das Bildnis der himmlischen Jungfrau stand und beteten inbrünstig. Ueber eine Weile, da sie so beteten, tat sich die Tür auf, und ein zottiger Bär kam hereingetrabt, der trug das vermißte Bübchen in der Schnauze. Ihm folgte ein gieriger Wolf, der in seinem Rachen das kleine Mägdlein trug. Die beiden Untiere legten ihre Beute säuberlich zu Füßen des Marienbildes nieder und entfernten sich darnach mit einem Anstand, den niemand solchem wilden Raubgeziefer zugetraut hätte. Die glücklichen Eltern aber halsten lachend und weinend ihre wiedergefundenen Kinder und wurden nicht müde, Gott und seiner benedeiten Mutter Dank zu sagen.

Da die Kunde des Wunders erscholl, kamen die Gläubigen in großen Scharen herbei, das heilwirkende Bildnis zu verehren; und bald mußte an Stelle des Kapellchens eine Kirche errichtet werden. So entstand die Wallfahrt zu Unserer Heben Frau im finstern Wald, die in mancherlei Anliegen, besonders häufig von Frauen, die ihrer schweren Stunde entgegensehen, aufgesucht wird.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 51ff