St. Ursulas Läuten

Vor Zeiten war das Jaufental viel schöner, als es heute ist und stieg so sanft an, daß ein Weinfaß, wenn es jemand zuhinterst im Tale in Bewegung gesetzt hätte, bis an den Taleingang gerollt wäre, ohne zu zerbrechen. Es war auch viel mehr fruchtbarer Boden da, Wieswachs und Bäume. Aber einmal kam ein greuliches Wetter daher, der Regen goß hernieder, daß das ganze Tal unter Wasser stand. Nur die Kirche, die auf einem Berg lag, blieb lange Zeit verschont,- deshalb hatten sich viele Leute dorthin geflüchtet und hielten fleißig die Glocken im Schwung mit Wetterläuten. Aber das Wasser stieg und stieg, als sollte das ganze Tal untergehen und erreichte auch die tische. Da liefen die Leute davon und erklommen die nächsten Höhen und Berge. Nur der alte Mesner blieb noch zurück und lautete getreulich. Da er aber selbst in größte Gefahr geriet, mußte auch er sich flüchten und schied mit weinenden Augen von seiner Kirche, indem er sprach: "Meine liebe heilige Ursula, itzt kann ich Dir nicht mehr helfen, itzt mußt Du Dir selbst läuten." Horch da! Nach seinem Weggang läuteten die Glocken erst recht so hell und voll wie nie, und war doch kein Mensch, der sie zog. Auf ihren Wunderklang ließ allmählich derRegen nach, die Wasser verliefen sich; die liebe Sonne schien wieder durchs Gewölk, und die Geflüchteten trauten sich wieder von den Bergen herunter zu steigen. Aber das Tal war nicht mehr so schön, wie früher: viele Felsen waren seither nackt und viele Matten mit Sand und Geröll verschwemmt.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Innsbruck 1924, S. 211ff