Das fromme Weibele

Vor Zeiten, wie im Stubaital noch keine Pfarrkirche war als die von Telfes, mußten die Leute zur heiligen Meß oft weit herkommen. Da war in einem Häusel, so ungefähr zwischen Medratz und Neustift, ein altes Weibele, wie's im ganzen Tal kein frömmeres gab. Alle Sonntage machte sie den langen Weg nach Telfes, ob sie es schon oft kaum derkraften konnte, und scheute nicht Wind noch Wetter. Die ganze Zeit aber, weil sie ging, betete sie, und zwar auf dem langen Weg nur ein einziges Vaterunser. Sie betete langsam und herzinnig, und deuchte ihr das Vaterunser so viel fein, daß sie darüber immer ins Sinnieren geriet und fast mit dem weiten Gang ehnder fertig war als mit der Betrachtung. Es war ausgemacht, daß der Pfarrer und der Mesner von Telfes mit dem Anfang des Gottesdienstes warten sollten, bis die Alte da wäre. Aber obschon sie wußten, sie lasse die Messe keinmal aus, wurden sie doch zuletzt ungeduldig und sprachen:

Hugo Grimm,  Das fromme Weibele

"Sollen wir leicht alle Sonntag mit der heiligen Meß warten, bis die Alte hergewaklett kommt?! Wir heben zur richtigen Zeit an; ist sie nicht da, so mag sie selbst dazuschauen." - Also fingen sie wirklich den anderen Sonntag die Messe rechtzeitig an; wie sie aber kaum begonnen hatten, sagte der Mesner: "Ach Hochwürden, die Schelle geht mir ab, und eben stund sie noch da." Da mußten sie halt die Schelle suchen, und sie fand sich nicht eher, bis das alte Mutterl da war und die Messe mit anhören konnte. Das nächste Mal ging es wieder so, da fehlte das Rauchfaß - aber wie die Alte herein gehumpelt kam, stand es da. Beim drittenmal fehlte der Meßwein, und auch der war nicht früher wieder zur Stelle als das Mutterl. Da erkannten der Pfarrer und der Mesner, daß die fromme Alte vor Gott Gnade gefunden hatte, und er nicht wollte, daß sie um die heilige Messe gebracht würde. Deshalb zügelten sie ihre Ungeduld und warteten künftig immer auf das Mutterl.

Quelle: Tiroler Legenden, Helene Raff, Bilder von Hugo Grimm, Innsbruck 1924, S. 197ff