Die Dame von Hauenstein

Auf Hauenstein, der berühmten Burg, auf welcher der Minnesänger Oswald von Wolkenstein seine Lieder dichtete, wohnte ein Ritter, der in das Heilige Land ziehen mußte. Er versah das Schloß auf ein volles Jahr mit Lebensmitteln und verschloß eifersüchtig eine junge Frau in demselben, bis zur Zurückkunft, die innerhalb desselben Jahres erfolgen sollte. An ein Eindringen von außen, an ein Entkommen von innen war nicht zu denken; so zog der Ritter durch Ungarn und Palästina. Die zurückgelassene Gattin mit der ersten Leibesfrucht unterm Herzen trug mit Freuden die Einsamkeit und ward nach 3 Monaten Mutter eines Knäbleins, das dem Vater ganz ähnlich sah. Das Jahr war in der Pflege desselben bald verschwunden, aber auch die Lebensmittel begannen ein Ende zu nehmen, und kein Ritter wollte kommen. Die Frau trat wohl hundertmal an einem Tage ans Fenster, um zu sehen, ob keine Erlösung nahe. Sie ward mit jedem Tage schwächer. Eines Tages sah man sie endlich tot am Gesims des Fensters lehnen und das Knäblein an ihrer Brust verschmachtet. Drei Tage später starb auch ihre treue Magd. Am Tage darauf langte der Ritter in sichtbarer Angst an. Er trat ins Schloß, in die Gemächer der Frau; er erhoffte Leben, fand aber nur 3 Leichen. Er sank tot auf sie nieder. Man begrub die Toten in der nahen Kirche zu Seis. Alle Nachmittage, 3 Uhr, wandelt die Frau noch immer mit losen, blonden Haaren aus dem Grabe in die Ruinen des Schlosses und blickt aus dem Fenster hinab nach Seis, und der Wind wirft ihr die fliegenden Haare ins bleiche Gesicht.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 358.