Der Wunderer

Zu einer Zeit war in Lienz und im ganzen Pustertal und in den Nebentälern ein Mann bekannt, der war aus dem nahen Kärnten, gar nicht weit von der Grenze, gebürtig, aber mehr in Tirol heimisch als in seinem Geburtslande. Er konnte viel und wußte viel, welches erstere sich nicht immer mit dem Vielwissen vereinigt zeigt, und da mancherlei an ihm den gewöhnlichen Leuten nicht selten wunderbar erschien, so hieß er insgeheim der Wunderer. Seine Hauptkunst war die des "Bringen-Machens" von Sachen, die gestohlen waren, und in dieser Beziehung wurde er von weit und breit auch besucht und begehrt. Er hatte eine geheimnisvolle Kenntnis zukünftiger Ereignisse und Begebenheiten, ohne daß er eigentlich wußte, woher und wie sie ihm kam, und diese bewährte sich absonderlich selbst bei seinem Tode. Es war in den vierziger Jahren des laufenden Jahrhunderts - da lebte der Wunderer noch -, als er am Morgen des heiligen Stefanstages (des zweiten Weihnachtsfeiertages) mit seinem Nachbar in die Kirche ging, denn der Wunderer war keineswegs ein Teufelsbündner oder ein Lump. Da blieb er auf einer Brücke stehen und sagte: "Wie wird es doch heute noch gehen? Ich fühle mich so frisch und gesund, und doch sagt mir mein Sehervermögen, daß ich noch heute sterben werde." Aber wie, das sagte er nicht. Der Nachbar staunte, erschrak und suchte dem Wunderer sein Vorgefühl des Todes als eine trübe Ahnung auszureden. Der Gottesdienst ging zu Ende, der Wunderer ging nach Hause, der Abend kam, er lebte immer noch - aber es erhob sich ein Sturmwind. Wie der Wunderer sich zu Bette legen wollte, donnerte eine Schneelawine vom Berge nieder, zerschlug sein Haus und begrub ihn unter dessen Trümmern.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 353.