Der ewige Jude

Die weitverbreitete Sage vom ewigen Juden ist auch in Tirol an vielen Orten bekannt und heimisch. Das Volk nennt ihn den "umgehadi Schuaschta", den umgehenden Schuster. Man erzählt von ihm im Alpbachtale, in Schwaz, im Eisacktale, auf dem Heiligblut-Tauern, am ausgebildetsten zu Brennbichl, dicht bei Imst. Dort lautet die Sage also:

Ahasverus, der Schuster von Jerusalem, der unserm Heiland auf seinem schweren Gange nach Golgatha nicht eine kurze Rast auf seiner Schwelle gönnen wollte, wurde zum rastlosen Umherwandern auf Erden verdammt, bis zum Tage des Gerichts, an welchem der Herr selbst zu kommen verheißen hat. Sterbensmüde muß der ewige Jude wandern, nicht als Geist, sondern als Mensch mit Heisch und Bein, und alle Last menschlicher Gebrechlichkeit ertragen. So überwandert er von einem Jahrhundert zum andern das Erdenrund. Wer ihm begegnet, dem läuft ein kalter Schauer durchs Gebein, und eine unerklärbare Unruhe erfaßt ihn, die nur dann erst schwindet, wenn er danach einen armen Fremden beherbergt. In den Weiler Brennbichl kommt, wie dort die Sage geht, der umgehende Schuster auf seiner Wanderung erst alle fünfhundert Jahre einmal. Als er zum ersten Male dorthin kam, war Brennbichl eine Stadt, beim zweiten Male war es ein See, beim dritten Male war es ein Berg. Beim jedesmaligen Hinkommen fragte Ahasverus die Bewohner, ob sie wüßten, was vor fünfhundert Jahren an ihrem Ort gewesen sei. Und da meinten die Leute stets, nichts anderes, als was jetzt auch da sei, worauf er sie eines Bessern belehrte; sie glaubten ihm aber nicht. Beim letzten Besuche hatte er einen furchtbaren Hunger, und da er im Wirtshause am Berge etwas zu essen erbat, stellte man ihm eine große Pfanne voll Mus auf einen Holztisch vor das Haus, und er aß so gierig, als hätte er tagelang gefastet. Die Bauersleute würden Mitleid mit ihm gehabt haben, wenn sie nicht gewußt hätten, daß ihr Gast der umgehende Schuster sei. Er mußte, und daran wurde er erkannt, beständig um den Tisch herum gehen, während er sich sättigte, denn er darf nie und nimmer rasten. Wann er wieder nach Brennbichl kommen wird, etwa nach einhundertfünfundsiebzig Jahren, findet er vielleicht nicht mehr den kleinen Weiler mit den traurigen Erinnerungen (in der Nähe von Brennbichl verunglückte den 9. August 1854 König Friedrich August von Sachsen), den er finden würde, käme er jetzt.

Zu Schwaz im Unterinntal soll der umgehende Schuster erst zweimal gewesen sein. Beim ersten Male war es eine große Erlenau, beim zweiten Male war es eine Stadt, beim dritten Male wird es wieder eine Erlenau sein. Am ausgebildetsten erscheint die Sage vom ewigen Juden auf dem Matterhorn über dem Vispertale, welche in Ludwig Bechsteins deutschem Sagenbuch Nr. 18 beschrieben ist.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 180.