DER SCHWARZE STIER

Aus dem Brixentale, das von der Hohen Salve überragt wird, zweigt sich die Windau oder das Winnachertal ab. An dem linken Gehänge desselben liegt die Reinkahreralpe mit einem kleinen Hochsee, der von ihr den Namen trägt. Auf dieser Alpe war einst ein Senne, der den Bauern, welchem er diente, tödlich haßte und durch Nachlässigkeiten und Treulosigkeiten aller Art dessen Alpenwirtschaft fast auf nichts herunterbrachte, doch gelang es ihm, sein Unwesen eine Reihe von Jahren hintereinander fortzutreiben, und die Verluste anderweitigen Ursachen zuzuschreiben. Ganze Ströme von Milch hatte dieser treulose Senne verschüttet - und endlich war er ohne Reue und Leid gestorben. Da traf ihn die gerechte Strafe. Er mußte als Almputz in Gestalt eines wilden schwarzen Stieres büßen, und in solcher versprengte er die Kühe und machte die Alpe ganz verrufen, obschon dieselbe fett und ergiebig war. Endlich wurde dem Eigentümer der Reinkahreralpe geraten, doch den bösen Geist bannen zu lassen, und so bewog dieser zwei fromme Mönche, mit ihm hinaufzusteigen. Als der Abend kam, hörten alle drei ein dumpfes Murren im Walde und gingen mutig auf den Wald zu. Die Mönche hatten die Absicht, den Stierputz in den Reinkahrersee zu bannen, und der Geist merkte alsbald ihr Vorhaben und brüllte mit schrecklicher Stimme:


Bannt ihr mich in den See,
Dan wehe Windau, weh!
Den See dann laß ich aus,
Und ihr seht nimmermeh
Die Spitz von einem Haus!


Aber diese gefährliche Drohung schreckte nicht die beiden kühnen Beschwörer. Sie ließen den schwarzen Stier toben, brüllen und wüten, so sehr er wollte, lasen ihren Exorzismus, sprachen ihre Bannformeln, und unter furchtbarem Gebrüll stürzte sich der schwarze Stier in das schwarze Gewässer. Leute von Brixen, Kitzbühel, Sankt Johann und aus den Tälern wollen oft noch den Stier brüllen gehört haben, heraus aber kommt er nicht, nur mit den Augen lugt er bisweilen ganz teuflisch herauf.


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 32