Die Wilden

Auf der ganzen Gebirgsstrecke von Reutte durchs Lechtal aufwärts, dann über den Tannberg nach dem vorarlbergischen Gebiete und wieder im weiten Bregenzerwalde bis hinab gegen Bregenz am Bodensee ist die Sage von sogenannten "Wilden" sehr lebendig, ja sie dringt auch weit in das bayerische Alpenland hinüber, besonders durch das Rappental hinunter ins Illertal. Es sind diese Wilden nichts anderes als die wilden Männer und Frauen der Sage, wenn schon etwas verwischt und abgeblaßt und mit Hexen in Verbindung gebracht, von denen die mythische Ursage nichts weiß.

Ein ganz besonders unbändiges Wildengeschlecht hauste in den furchtbar zerrissenen Gebirgen und Klüften, die das Dorf Schrecken in der Mellau umgeben. Weiter abwärts, gegen Schnepfau zu, brachen die Wilden den Steinpfad durch die Felsen der Mittags- und Kanisfluh, welche letztere auch an ihrer nördlichen Seite als senkrechte Wand aufsteigt und am Abhänge eine vielbewunderte, freistehende Felsensäule zeigt, welche die Wildkirche heißt, aber auch "der Hexenturm". Die Riesen und Wilden türmten ihrerzeit den mächtigen Felskoloß auf, und die Hexen hielten ihrerzeit darauf Tänze.

Außerdem kündet die Sage, daß jene in Vorarlberg und dessen Angrenzungen ihren Aufenthalt in Felshöhlen gehabt, von Leibesgestalt sehr groß, dabei rauhhaarig und mit Tierfellen bekleidet gewesen seien. Sie haben eine starke Sprache geredet, die aber nur aus wenigen Worten bestand, wodurch sich die den Riesen beigemessene Wortkargheit naturgemäß erklärt. Um so geschwätziger sind die Zwerge, die Wortaufklauber der Neuzeit!

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 216.