Das glückliche Tal

Links vom Dorfe Bach öffnet sich das Seitental Madau. Jetzt ist's ein Alpental; die Angabe aber, daß einst zwei Höfe darinnen gestanden, bewährt sich; sie heißen "Madau" und "Eck". Wetter und Gefahren veranlaßten die Bewohner auszuwandern, obschon nicht weiter als bis hinab gen Bach. Die Volkssage reicht noch weiter zurück und erzählt, daß vor den geschichtlich nachgewiesenen zwei Höfen früher sieben Häuser in ausgedehnten, herrlichen Getreidefeldern gestanden hätten, in welchen sieben glückliche Bauern in Patriarchalischem Frieden gelebt, wovon jeder sieben gesegnete Kühe und grüne Wiesen- und Weidegründe mehr als genug gehabt habe. Einer derselben begann abzuweichen vom Pfade der Rechtschaffenheit, daher war's wohl kein Wunder, daß über ihn auch bald das Unglück hereinbrach. Zu grimmer Winterszeit verschüttete eine Lawine dieses Bauernhaus, so daß er und die Seinen nur das nackte Leben retten konnten. Die Nachbarn traten zusammen bauten im Sommer sein Haus wieder auf und gaben ihm jeder eine Kuh, so daß sie einzeln jetzt jeder sechs Kühe hatten und das gemütliche Leben fortgesetzt werden konnte; denn das Unglück nahm der Getroffene als warnende Prüfung auf; er wurde nun wieder brav und gerecht, wie die andern alle - das Tal war fromm und selig, daher hieß es weitum das glückliche Tal. Damals lebte im Tale ein altes Mütterchen, welches an den Sonntagen nicht mehr den dreistündigen Weg nach der Pfarrkirche, die in Elbigenalp gestanden, machen konnte, auch sonst schon schwach und gebrechlich war, daher betete es jedesmal drei Vaterunser dafür. Der Pfarrer von Elbigenalp war ein strenger Seelenhirt und schickte ihr die Aufforderung zu, zum sonntäglichen Gottesdienst zu kommen. Das Mütterchen gehorchte sogleich dem Gebot und wanderte am nächsten Sonntage bei schrecklichem Sturm und Regen den Weg nach der Kirche und stellte sich auch im Widum.

Der Pfarrer schalt die Alte wegen Lauheit und fragte, wieviel sie statt sonntäglichem Kirchengang gebetet habe. "Drei Vaterunser!" war die Antwort.

Und wieviel habt Ihr am Wege hierher und in der Kirche gebetet?" fragte der geistliche Herr weiter.

"Auch drei Vaterunser!" antwortete das Mütterchen.

Das dünkte dem strengen Seelenhirten zuwenig. Aber das Weiblein - den Schweiß von der Stirne wischend - sprach: "Es hat alles seine Sach, und es gilt, wie und wann und wo man betet; bei meinem Alter, in unserm Tal drin, bei solchem beschwerlichem Weg und wildem Wetter sind drei Vaterunser mehr wert, als wenn anderswo alle Leute zusammen durchs ganze Tal hinaus beten würden." Das bezweifelte aber der Pfarrer von Elbigenalp, und da hing das Weiblein zum Zeichen der Wahrheit seinen noch aufgespannten Regenschirm in die Luft, und dieser blieb wirklich in der Luft hängen. Da kam nun alles Volk zusammen, und der Pfarrer und das Volk erkannten, was das glückliche Tal Madau für Leute beherberge und was drei Vaterunser recht gebetet wert seien und wirken können; hierauf ging das Weiblein heim, und alle priesen den Herrn, der ihnen das Wunder gezeigt hatte.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 160