DIE HÖHLENJUNGFRAU

Hart an der bayrischen Grenze am Nordrande Tirols unweit Kössen liegt im Bereiche des Großachentales die Wallfahrtskapelle Klobenstein, zu welcher man durch eine schauerliche Klamm, den Grenzpaß gleichen Namens, gelangt. Oben zieht sich über eine Brücke ein schmaler Weg zur Höhe, und drunten in der Tiefe hat sich die brausende und tobende Ache ihr Bett gewühlt.

Diese Tiefe heißt das Entenloch, und nahe demselben geht eine Höhlenkluft in den Felsen hinein, in welcher eine Schatzhüterin wohnt, deren Schatz in einer Kiste verschlossen ruht, auf welcher ein feuriger Hund liegt. Diesen Hund konnte nach einem alten Bannspruch ein sündenloser Mensch herunterjagen und schlagen, ohne daß ihm ein Leid geschehe, und dann aus der Kiste so viel Gold nehmen, als er nur immer von dannen zu tragen vermochte. Nun waren einmal dort herum zwei Brüder, von denen der eine blödsinnig war, der andere aber wohl bei Verstand, nur daß er sich dem Trunk ergeben hatte. Der letztere hörte von der Jungfrau, dem Hund und dem Schatz und vermochte seinen blödsinnigen Bruder, sein Glück, versteht sich für ihn mit, zu versuchen, in die Höhle einzudringen und Gold herauszuholen. Er dachte: Bringt der Trottel Gold, so ist's gut, so nehm' ich's, und kommt er drinnen um, so ist's kein Schaden.

Der Blödsinnige bewaffnete sich mit einem großen Knüttel und tappte in die Felsenhöhle hinein. Da lag der feurige Hund und graunzte ihn an; der Trottel war nicht faul, sondern schlug auf den Hund los, und alsbald sprang dieser vom Kasten, den nun die Jungfrau aufschloß, worauf sich jener mit schwerem Golde belud. Neben der Kiste stand das Bett der Jungfrau, das war weich und weiß wie Schnee. Da sagte der Blöde gar nicht blöde: "Dirndl, du hoscht mein Oad a scheans Bött", und steckte die Hand hinein, zog sie aber alsbald mit einem jämmerlichen Schmerzensschrei ganz verbrannt wieder heraus, denn die in selbiger Höhle zum Schatzhüten verwunschene Jungfrau litt die heiße Pein. Nun strebte der Blödsinnige hinaus, denn ein gebranntes Kind scheut das Feuer, doch da zeigte die Jungfrau in einen entgegengesetzten Höhlengang und sagte: "Dort gehe hinaus, denn draußen am Entenloch wartet schon dein Bruder, will dich totschlagen, dir das Geld nehmen und dich in den Tobl werfen."

So war es in der Tat. Der schlechte Bruder wartete bereits, und als ihm der Trottel zu lange ausblieb, betrat er keck die Höhle. In diesem Augenblick entstand ein Donnergekrach, erscholl ein Todesschrei und prasselten die Felsen brechend nieder auf den, der so Frevelhaftes im Schilde führte - jener hörte es noch mit Schrecken, tappte sich lange, lange im dunklen Gang fort und kam erst in den entgegengesetzten einsamen und öden Engen an einer überhängenden Felswand, nach Amt oder Anöd (Einöde) im Winkel zu, wieder an das Licht des Tages. Und ob Amt oder Anöt geschrieben werden soll, woaß i a nit.


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 15