Die Wilde Jägerin

Auf der Alpe "Hochtennen", die das Inntal vom Lechtal scheidet, war es vor Jahren nicht geheuer. Wer droben über Nacht verweilen wollte, der sah gar bald schwarze Wolken zusammenziehen, hörte bald darauf wettern und wüten, und mitten im Wetter stand eine riesige, feurige Frauengestalt, eine lange Peitsche in der Hand. Bald sah man sie auch so gestaltet keuchend und schnaubend als Höllenfürstin dahinfliegen, gefolgt von einem Heere feuriger Stiere, und so ging es in den wogenden Nebeln herum, ein wahrer Höllenreigen, bis zum Morgengrauen. Dann ging's im brausenden Fluge einer Felsenwand zu, wo ein furchtbarer Schlund war, in welchem die feurige Riesin voraus, die Herde ihr nach, versank und Gebrüll und Gelächter weithin über die Höhen erscholl.

Wenn sich einer auf dem Wege verspätete und in diese Wetternacht geriet, so verirrte er sich, und wenn er meinte, an Ort und Stelle zu sein, so war er doch wieder am alten Fleck, oder er kam gar an die Felswand und fiel sich zu Tode. Daher scheute sich jung und alt, sowohl Hirten als Jäger, über die "Tennen" zu gehen, und mußte es sein, so bekreuzigten sie sich und beteten um Schutz vor Gefahr. Die Wand mit ihrem Schlund ist wohl zu sehen, doch hütet man sich sogar bei Tag, in deren Bereich zu kommen. Dieses Schreckgespenst - sehr an die Holla mahnend - soll bei Lebzeiten eine saubere Dirn gewesen sein, schön wie Milch und Blut. Dessen war sie sich auch bewußt, sie brach manch unschuldiges Herz entzwei, und Hoffart und Stolz wohnten in ihrem Herzen, und daraus ging unbändiger Trotz in all ihr Tun und Lassen über. Sie war Sennin auf der Hochtennenalpe und trieb aus boshaftem Zeitvertreib das ihr anvertraute Vieh an die jähe Felsenwand und ergötzte sich, wenn die unglücklichen Tiere in den finstern Schlund des Abgrunds fielen und zerschellten. Sie lachte laut auf zum Gebrülle der armen Opfer.

So trieb sie es viele, viele Jahre. Doch ihre Stunde schlug früher als sie gedachte. Der gerechte Richter sandte den Tod - aber selbst das Grab wurde ihrem Leibe nicht vergönnt. Sobald die Aveglocke abends läutete, da stieg sie aus dem Grabe hinauf zu ihrem Sündenpfuhl und büßte als Wilde Jägerin ihren Frevel.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 158