Die Jakobshühner

Im obern Leutaschtale, einem Hoch- und Seitentale der Isar, zwischen Mittenwald und dem obern Inntale, und durch einen guten Weg mit Telfs in Verbindung, steht eine dem heiligen Jakob geweihte Kapelle, in der eine sehr alte, halbzerstörte Wandmalerei sich befindet, welche eine fast bis zur Legende verklungene Sage darstellt, oder, was noch ungleich wahrscheinlicher ist, die Legende rief die Wandmalerei hervor, und diese versetzte den Ursprung einer bekannten Wundersage in diese einsame Gebirgsgegend. Es wohnte auf einem Hofe in diesem Tale ein redliches Ehepaar, dem zu seinem Glücke nur Kindersegen fehlte, und es gelobte dasselbe eine Wallfahrt zu St. Jakob in Compostela. Dem Ehepaar wurde alsbald ein frischer Knabe beschert, aber lange unterblieb die Wallfahrt, bis der Knabe schon die Jünglingsjahre erreicht hatte. Erst jetzt traten die Eltern ihre weite Wallfahrt in Begleitung des Sohnes an. Schon waren sie dem berühmten Gnadenorte und dem Grabe des hl. Apostels und Märtyrers Jakobus major nahe, als sie noch die letzte Nachtrast im Wirtshause eines Dorfes hielten. Des Wirtes Tochter verliebte sich alsbald in den blühenden jungen Tiroler und gab ihm allerlei spanische Winke, allein sein Herz war keusch und rein und widerstand jeder sündhaften Anreizung. Das verdroß die heißblütige Spanierin, und sie beschloß Rache zu nehmen für die Verschmähung ihrer Liebe.

Die Wallfahrer hatten schon am frühen Morgen des nächsten Tages das Gasthaus verlassen, als ihnen Leute nachgeritten kamen und sie durchsuchten. Ein silberner Löffel sollte gestohlen sein, und er fand sich im Gewande des Jünglings. Man führte Eltern und Sohn zurück und vor Gericht. Vergebens beteuerte der junge Mensch seine Unschuld; denn ohne sein Wissen hatte jene rachsüchtige Dirne heimlich den Löffel in seinem Gewande verborgen. Auf den überführten Diebstahl stand in den alten Zeiten überall die Strafe des Stranges, und Jakob, so war der Jüngling getauft, wurde zum unsäglichen Schmerze seiner Eltern gehenkt. Bis in den Tod betrübt setzten jene ihre Wallfahrt fort. Sie waren gekommen zu danken und konnten jetzt zu San Jago nur beten und weinen. Auf dem Rückweg kamen sie wieder an der Richtstätte vorbei, wo ihr geliebter Sohn hing. Der aber sah sie mit offenen Augen an, und sprach: "Ich lebe und leide keinen Schmerz." Die Eltern eilten nun in den Ort hinein zum Richter, den sie beim Schmause trafen, kündeten an, was sie gesehen, und baten, den Gehenkten abnehmen zu lassen. Der Richter verlachte sie und rief: "Sowenig diese toten, gebratenen Rebhühner davonfliegen, so wenig lebt euer Sohn." Aber siehe - da flogen die Hühner auf und davon. Starr vor Staunen waren der Richter und seine Gäste; eilig wurde der Gerichtete vom Galgen genommen und sagte aus, er habe keinen Schmerz empfunden, denn es habe sich ein starker, alter Mann unter ihn gestellt, auf dessen Schultern er gestanden habe. Darauf pilgerten die Alten abermals, und zwar jetzt mit dem Sohne, nach Compostela, und als der Jüngling das Bildnis des Heiligen erblickte, rief er aus: "Dieser ist es, der mich vom Tode errettet!"

Die Neuvereinten opferten ihren Dank und zogen beglückt in ihr heimatliches Tal in Tirol zurück und gründeten und erbauten dort die Kapelle. Sie steht zwei Sunden von Oberleutasch und eine halbe Stunde von Mittenwald an der Isar.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 135