Mäuseprozeß und Auswanderung

Zu einer Zeit gab es in der Feldflur von Glurns im Vintschgau Unmassen viele Mäuse, zu deren Vertilgung sich kein Mittel fand, denn alle Katzen ganz Tirols, ja ganz Deutschlands hätten sie nicht vertilgt, und der Phosphor war noch nicht erfunden. Lange beratschlagte der weise Stadtrat von Glurns, was in dieser Not zu beginnen und wie den zahllosen kleinen Kornräubern beizukommen sei, und fand endlich keinen ändern Ausweg, als die Mäuse zu verklagen und ihnen in optima forma den Prozeß zu machen. Da die Mäuse sich nicht selbst verteidigen konnten, so wurde ihnen von Gerichts wegen ein Anwalt zugeteilt, und der Prozeß begann. Die Anklage lautete auf unbefugten Feld- und Gartenfrevel, Minderung der bürgerlichen Nahrung, heimliche Unterschleife (weil die Mäuse die Getreidekörner unter die Erde in ihre Löcher schleiften), ferner auf wilde Ehen, Wühlerei, Aufwiegelung (des Erdbodens) etc. Der Anwalt brachte in seiner Verteidigung vor, daß es Sache der Feldpolizei sei, dem Feld- und Gartenfrevel zu steuern, durch gute Aufsicht und weniger Weintrinken im Wirtshause; was die Minderung der Nahrung betreffe, so sei diese Klage allerdings scheinbar begründet, allein wenn man den Mäusen alles Korn mißgönnen wollte, so könnten sie auch über Minderung der Nahrung gegen die Menschen klagen, denn sie wollten und müßten doch als Gottes Geschöpfe auch leben. Betreffs der wilden Ehen müsse der Anwalt zu bedenken geben, daß die Mäuse nur Beispielen folgten, die näher zu bezeichnen er Bedenken trage, sintemalen und alldie-weilen exempla essent odiosa*. Die Wühlerei sei auch keine Todsünde, alle Wesen wühlten: einer im Gelde, einer in Büchern oder Pergamenten, einer im Kornhaufen, einer im Mist, einer in schönen Frauenreizen usw. Das Mäuslein müsse auch wühlen, es folge nur seinem Naturtrieb. Trotz dieser glänzenden Verteidigung drang der Anwalt nicht durch, das einzige, was ihm gelang, war, die vom Gericht über die Mäuse verhängte Todesstrafe in Ausweisung zu verwandeln, wobei ihnen jede Rückkehr in ihr Mutterland auf ewige Zeiten untersagt wurde. Hierzu wurde ihnen großmütigerweise ein Auswanderungstermin von 14 Tagen anberaumt, und da der Anwalt wiederum anführte, es seien in der Mäuserepublik dermalen gar viele blutjunge Kindlein, so noch nicht gehen könnten, auch viele Weiblein, die gar so gerne ihr Wochenbett in der geliebten Flur von Glurns halten wollten, so tat der weise und einsichtsvolle Rat ein übriges und gab noch eine zweite Frist von abermals 14 Tagen.

Hierauf erfolgte die Auswanderung, doch machten es die Mäuslein wie andere Ausgewiesene neuerer Zeit, sie kommen nach und nach alle wieder, um unter Umständen noch ärger zu wühlen wie zuvor.

* Beispiele seien widerwärtig.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 247.