Die heilige Notburga
Eine der ältesten Tiroler Burgen war Rottenburg, welche jetzt nur noch in Trümmern die Gegend schmückt. Sie war die Wiege und der Stammsitz eines diese Gegend weithin beherrschenden Dynastengeschlechtes, das seinen Ursprung bis in das achte Jahrhundert hinauf leitete.

Ein Schutzengel war im 14. Jahrhundert dem Hause zuteil geworden, und zwar in einer frommen Jungfrau des Namens Notburga, welche Heinrich I. von Rottenburg und Ottilie, seiner Gemahlin, als Magd diente, und zwar mit der aufopferndsten Treue. Aber auch gegen die Armen war Notburga die Milde selbst, und das war der kargen Herrin Ottilie nicht recht; sie wollte nicht einmal dulden, daß die Dienerin die Speisen an Arme gebe, die sie sich selbst am Munde absparte, und es ereigneten sich auf Rottenburg Szenen wie bei der heiligen Elisabeth, Landgräfin von Thüringen, indem sich milde Gaben in Rosen verwandelten u. dgl. Ottilie ließ sich durch nichts bewegen, der guten Jungfrau Notburga anders als herrisch und feindselig zu begegnen, ja sie trieb die Arme endlich aus ihrem Schlosse.

Notburga suchte und fand bei einem Bauern Zuflucht, der sie aufnahm, in dessen Haus ihr Walten Segen und Fülle brachte, obgleich die fromme Jungfrau mehr betete als arbeitete. Einst galt es Gras zu schneiden, aber ehe die Arbeit vollendet war, erklang die Feierabendglocke, indem die letzten Strahlen der sinkenden Sonne die Gegend vergoldeten. Alsbald beendete Notburga die Arbeit, und darüber wurde der Bauer etwas unmutig und sagte: "Es muß heute zu Ende geschnitten werden." Aber Notburga antwortete nur das eine Wort: "Feierabend!", warf ihre Sichel hoch in die Luft, und siehe, die Sichel blieb hängen auf dem letzten Sonnenstrahl und glänzte hell wie der silberne Mond.


Barocke Halbplastik der hl. Notburga in der Notburga-Kapelle, Pfarrkirche Rattenberg
Die schwebende Sichel und/oder Getreidegarben sind ihre Attribute und wird hauptsächlich
in Tiroler Tracht dargestellt.
© Berit Mrugalska, 2. Oktober 2004

Je mehr bei dem Bauern der Segen wuchs, um so mehr nahm er ab beim Dynasten von Rottenburg; endlich starb Heinrich L, und Herrin Ottilie sank auch auf das Sterbelager. Da gab ihr Gott zum Glücke den Gedanken ein, Notburga zurückzurufen und ihre Verzeihung zu erbitten. Die Jungfrau kam, und bald blühte auch auf Rottenburg alles wieder im besten Wohlstand, und eine Reihe von Jahren war Notburga des Hauses wohltuender und segnender Genius. Als aber auch sie ihr Ende herannahen fühlte (nach dessen Eintreten Engel ihre Seele sichtbar in den Himmel trugen), ordnete sie an, daß ihre Leiche auf einen mit zwei Stieren bespannten Wagen gelegt werden sollte, und wo jene - ohne Lenker - sie hinfahren würden, da solle man sie bestatten. Die Tiere fuhren den Leichnam über den Inn, zu einer Kapelle des heiligen Ruprecht, in welcher in früherer Zeit Notburga oft gebetet hatte; dort begrub man sie nun, und da an ihrem Grabe Wunder geschahen, so wurde sie vom Volke als eine Heilige verehrt und ihr zu Ehren später eine herrliche Kirche erbaut und geweiht, die nun eine besuchte Wallfahrtskirche ist, und zu Eben ob Jenbach steht.

In diesem letzten Zuge der Sage von der Tiroler Notburga klingt ersterer zusammen mit der gleichnamigen Heiligen, die man in Schwaben verehrt, als eine Tochter des Frankenkönigs Dagobert nennt und ihr im Dörfchen Hochhausen eine Kapelle errichtete. Auch vom Begräbnis des hl. Sebaldus und der hl. Stilla gehen gleiche Sagen.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 83