Die Reichenspitzler

Von Zell im Pinzgau mußte ein Mann spät in der Nacht in die Glemm hineingehen; der sah alsbald auf einem Gras- und Getreideboden, durch welchen ihn der Weg führte, eine große Anzahl Vieh weiden und die Ähren zertreten. Weil er glaubte, daß das Vieh zufällig hineingekommen sei und Schaden anrichte, so fing er an, dasselbe hinaüszutreiben. Er schlug aber vergebens auf die Kühe, denn die Hiebe gingen durch, und als er mit der Hand darauftappte, ergriff er nichts, und er eilte von Grausen erfaßt eilig davon.

Aber ein Männlein begegnete ihm später am Wege und sagte zu dem Erschreckten: "Guter Freund, fürchte dich nicht vor mir, ich bin nur ein Reichenspitzler und muß um 12 Uhr zur Mitternacht droben sein, und ist schon 11 Uhr, muß daher eilen. Ist dir nicht Vieh begegnet?"

"Ja" , sagte der Mann, "ich wollte es aus dem Felde treiben, konnte aber nicht, 's war lauter Luft."

Da lachte das Männlein und sprach: "Glaub's gern, das waren alles Geister von der Reichenspitz, die mit mir hinauf müssen; wird dir noch mancherlei begegnen, Rosse, Ochsen, Stiere und Kühe; sie werden sich bäumen und aufspringen; merk dir aber - weich nicht aus, denn wie du das tust, bist du des Todes!" Damit ging das Männlein fort und der Mann auch. Dem begegnete richtig bald das Vieh; aus Furcht, weil die Rosse gar so wild taten, wich er ein klein wenig mit einem Fuße auf die Seite, da war schon ein Glied von seinem kleinen Finger weg. Daran hatte er genug, wich nicht mehr aus und kam unbeschädigt weiter.

Auch wird von den drei Geistern auf der Reichenspitze erzählt, daß einer davon immer zu Hause bleiben mußte, während die andern zwei auf den Almen herumgingen. Einmal luden die Hirten die zwei Reichenspitzler zum Essen ein, als sie just vorbeigingen, und die Geister nahmen die Einladung an. Unter dem Essen wurde das Mus ganz schwarz, nach und nach verlor es die schwarze Farbe wieder und wurde weiß wie frisch gefallener Schnee, worüber sich die Hirten nicht genug verwundern konnten. Als hernach das Mus aufgegessen war, sagten die zwei Geister: "Wir danken recht schön, wir sind nun erlöst; wir mußten warten, bis uns jemand zum Essen einlade, wir mußten zur Strafe so lange warten, weil wir in unserm Leben mit den Speisen grob umgingen und doch niemand etwas gönnten." Die zwei hatten freilich leicht zu danken, aber der dritte nicht, der sitzt vermutlich noch immer auf der Reichenspitze und hat das Nachschauen.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 73