Die Schatzhüter auf der Reichenspitze

Geheimnisvoll webt die vaterländische Sage ihre Duftschleier über die Reiche Spitze oder den Reichenspitz, der mit seinen Fernerzacken und Eishörnern die Grenzscheide zwischen dem Zillertal und dem Pinzgau majestätisch beherrscht. Tief unter dem blauen Äther, der sich über die Ferne ausspannt, und hoch über der grünen Erde liegen seit undenklichen Zeiten in den fast unzugänglichen Gufeln, nahe unter dem Scheitel des Gebirgstockes, Schätze, welche ein anderes vorzeitliches Geschlecht im geheimen Bunde mit der Naturkraft dort wachsen ließ und verbarg. Es sind Gold- und Silberadern, die dort zutage stehen, die der erlangen kann, der Mut und Unerschrockenheit besitzt. Aber sie segnen nicht, diese Schätze, sie sind noch keinem Sterblichen zum wahren Heile gediehen, und nur selten, vielleicht alle Jahrhunderte einmal, findet sich ein Sterblicher, der soviel kecken Mut, soviel Verwegenheit besitzt, dort hinaufzuklimmen in die ewig starre Eisregion, dann in die Schätzegufeln niederzusteigen und wieder hinauf und dann hinab mit den dem Eise und dem Gestein mühsam abgerungenen Schätzen, der er noch dazu keiner zuviel hinwegtragen wollen darf, weil ihn sonst die Last nimmermehr hinauf läßt. Was einer droben sieht und hört, das hat noch keiner verraten, aber es ist des Schrecklichen sicher mehr als des Schönen: denn dort droben wohnen in ihrer grimmen kalten Pein, die sie andauernd erleiden müssen, sieben Schatzhüter, welche als Wächter bestellt sind über die Gold- und Silberadern in den Schrunden und Schrofen des Eisgebirges. Gleichwohl sind sie nicht ohne Hoffnung auf endliche Erlösung, denn sie haben ein gewisses Recht; sooft es einem Menschen gelang, von dem Schatze etwas von dannen zu tragen, wodurch sich dann sein irdisches Besitztum schnell und wundersam mehrt, und er stirbt, so muß er alsbald hinaufwandern zum Reichenspitz in das Reich der spitzen kalten Pein, und jener Hüter, der von den sieben am längsten droben weilte, darf eingehen in das Reich des ewigen Friedens; davon gehen im Zillertale wie in der Dux verschiedene Sagen.

Einst waren, so wird in Piesendorf erzählt, zu gleicher Zeit drei Herren unter der Zahl der unseligen Schatzhüter; diese trugen lange schwarze Talare und Schnabelschuhe mit großen glitzernden Silberschnallen und spitze Hüte. Sie meisterten die übrigen, und man sah sie nicht selten zur Winterszeit in Sennhütten und Gehöfte eintreten, um sich zu wärmen, denn die menschlich getrennte irdische Natur war noch nicht von ihnen genommen, daher konnten sie noch frieren, und furchtbar zu frieren war ja eben ihre Strafe und Verdammnis. Und obwohl jene Halbgeister die Schätze der Eiswelt zu hüten hatten, lockten sie doch auch wieder Menschen an, durch jener Verderben der eigenen Erlösung nahe zu kommen, just wie die Greiner Hüter.

Einmal hatte ein Bauer aus dem Dorfe Stumm, jenseits des Zillertales, einen weiten und wichtigen Gang zu tun, zu dem er die Nacht verwenden mußte. Als er heimkehrte, brach schon der Tag an, und die Vögel begannen zu singen.

Schon wurde es Tag, da kam er zu einem schmalen Gangsteig, der durch grüne Matten führte, und schaute vergnügt auf seine Wiesen und Gründe. Es war um Johanni, der Himmel war klar, und der Tag versprach heiß zu werden. "Heute gilt's!" sprach zu sich der Bauer: "Heut heißt's Sensen dengeln, was mein Arm aushalt', denn es wird ein Tag, an dem's mit einer Sonne rauschdürres Heu gibt, vormittag wird's niedergemäht, abends wird heimgefahren." Da kam auf einmal ein Mann vom andern Ende des Gangsteigs dem Wanderer entgegen; den erkennt jener, es ist ein Nachbar, aber in völligem Winteranzug, im Lodengewand mit dicken Pelzfäustlingen an den Händen und versehen mit einem starken Bergstock. Über diesen Anzug lacht der Bauer laut auf und fragt: "Ja wohin willst d'denn? Übern Tauern? Schaust mein Oad grod aus wia a Eismandl." Der Angeredete grüßt nicht, dankt nicht, er geht an dem Nachbar kalt vorüber, ja wohl kalt im eigentlichsten Sinn des Wortes; denn es geht eine Kälte von ihm aus, daß es den Bauer überrieselt, und nur das spricht jener mit tiefer Stimme: "Auf d' Reich'nspitz! Gold hüten!" Kaum tritt der Bauer ins Haus, als ihm sein Weib die Neuigkeit entgegenruft, der Nachbar sei in der Nacht todeskrank geworden und werde es wahrscheinlich überstanden haben. Nun ging dem Bauer ein Licht auf. Es hatte aber mit selbigem Nachbar diese Bewandtnis: Vor Jahren war er in seinem Hauswesen so merklich herabgekommen, daß um ein Haar er vergantet worden wäre und Haus und Hof mit dem Rücken hätte ansehen müssen. Da war er einige Tage lang fort gewesen und dann vergnügt wiedergekommen, worauf sich sein Wesen schnell gebessert. Auswärtige Freunde, sagte er, haben ihm geholfen. Ja - sehr auswärtig! - droben die Schatzhüter auf der Reichenspitz hatten das getan. So erzählten auch die Leute zu Piesendorf, daß einst daselbst ein grundreicher Mann auf dem Sterbebette gelegen. Bei ihm standen seine beiden Brüder mit traurigen Mienen und bekümmerten Gedanken, unter Seufzen entrang sich die Seele des Todkranken ihrer irdischen Hülle. In diesem Augenblicke ging draußen ein Mann vorbei, der trug einen langen, festen Stecken in der Hand, ein warmes Jägerkleid, wie man es winters trägt, am Leibe und zeigte überaus kummervolle, traurige Miene. Dieser Mann sah leibhaftig so aus wie der Verstorbene, und wie die beiden Brüder ihn wandeln sahen, überlief sie ein eiskalter Schauer. "Gott tröste ihn!" sprachen sie vor sich hin. "O weh, o weh! Der muß hinauf zur Reichenspitz!" Und da faßten die Brüder den Entschluß, ihren verstorbenen Bruder von seiner Pein zu erlösen. Rasch machten sie sich reisefertig und durchwanderten aufwärts das Pinzgau und eilig und mutig am steilen Gelände hinan höher und immer höher. Als die Wanderer endlich am Ende des schroffen Bergsteges angelangt sind, bildet sich Nebel rings um sie her, der wird dichter und dichter, und aus dem Nebel wird Nacht, und sie können ihre Füße nicht mehr sehen, geschweige den Boden, so finster wird's, und zugleich beginnt es greulich zu blitzen und zu donnern. Aber die beiden Brüder sprachen ihr Gebet, rufen einander bisweilen zu und kraxeln langsam vorwärts. Endlich hört das Donnergekrach und das Blitzen auf, die Brüder stehen auf dem Scheitel der Reichenspitz, und der Nebel schwindet plötzlich weg, und über ihnen lacht der blaue Äther in voller Klarheit, und so steht mit einem Male ihr Bruder bei ihnen, ganz so, wie sie ihn hatten wandeln gesehen, und sagt: "Dank eurer Liebe und Treue, ihr habt mein Los gewendet zur Erlösung", und es wurde sein Jägergewand umgewandelt in ein Lichtgewand, und er schwand vor ihren Augen hinweg wie Morgennebel. Und sie gingen heim und begruben den Verstorbenen.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 72