Schrecke niemand

Die Geisterwelt läßt nicht mit sich freveln, darum sollen verständige Eltern auch nicht ihre Kinder mit Klaubaufen, Fanggen und sonstigen Unholden oder gar mit dem Teufel bedrohen oder wirklich schrecken.

Einst ging ein Holzknecht im Paznauntale gegen Abend vom Holzziehen nach Hause, behangen mit seinen Ketten und Stricken, und

überholte auf dem Wege ein armes, altes Weiblein, das unter der Last eines schweren Korbes keuchte und nur langsam vorwärtszuschreiten vermochte. Der Holzknecht dachte mit losem Sinn: Wart, Alte, ich will dir bessere Beine machen, schritt voraus und stieg, als er dem Weibe durch eine Wendung des Pfades aus den Augen war, auf eine alte Tanne dicht am Wege, die mit ihren Ästen über die Straße reichte.

Kaum war das Weiblein unter dem Baume weg, so ließ sich der Holzknecht unter lautem Kettengerassel dicht hinter der Alten herabfallen, worüber diese so furchtbar erschrak, daß sie umsank und eine Zeitlang bewußtlos am Boden liegen blieb, auch nachher nur mit größter Mühe sich wieder aufzuraffen vermochte. Eines ändern Abends kam derselbe Holzknecht sehr ermüdet an derselben Stelle und hart an der Tanne vorüber und gedachte seines schlechten Scherzes, den er sich mit der armen, furchtsamen Alten gemacht, welcher der Schreck in alle Glieder gefahren war und die noch daheim krank lag; da rasselte es plötzlich über ihm im Gezweig furchtbar mit Ketten, und gleich darauf plumpste etwas dicht hinter ihm nieder. Darüber erschrak nun auch der Holzknecht bis zum Tode, lief zitternd und zagend nach Hause und ging lange siech und bleich im Gesicht umher, sagte aber lange Zeit niemandem, was ihm widerfahren.

So wurde er gestraft für seinen Frevel an der armen alten Frau.


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 210