Der Schreiergeist

Westlich von der Poststraße zu Gossensaß öffnet sich das sonnige Tal Pflersch (einst Phlers oder Phlerris) fast zwei Stunden lang eben, dann noch drei Stunden aufwärts bis zu den Eisgebirgen des Stubenferners, welcher, weil das Tal eine so günstige Lage hat, wunderschön meergrün schimmert. Der einstige reiche Bergbau auf edle Metalle ist 1818 gänzlich verschwunden, doch die Alpenwirtschaften stehen im schönsten Flor. Und wie im schönen Tiroler Lande fast jedes Tal seine besondern alten Sagen, Reime, Lieder und Trachten aufzuweisen hat, so hat das Pflerschtal einen eigentümlichen, gespensterartigen Geist, ein Schreckgebilde: den "Schreier" oder "Schreiergeist". Er ist bald Riese, bald Zwerg - wenn der Wanderer im Tal nächtlicherweile dahin geht, so sieht er im Vollmondschein ein kleines Männchen, das wächst auf und auf, wie ein Berg, und der arme Wanderer sinkt entweder ohnmächtig nieder oder läuft sich fast zu Tode, doch bald ist alles vorbei, höchstens der Kopf ist aufgeschwollen, und ein andermal, wenn jemand den Schreier belauscht, sieht man, wie er von Riesenhöhe sich in sich selbst hineinsteckt und kleinwinzig wird, hernach wieder aufsteigt und so abwechselt, als ob's ihm ein Vergnügen machte. Aber es scheint nicht so zu sein: denn meistens schreit er so wild, daß einem recht grausen tut. Wer auf bösen Abwegen geht, den tuckt er schon ärger. Sein Aufenthalt ist entlang des wilden, sausenden Schleierbaches, der durch wilde Felsenklammen oft tief unten durch das Tal läuft und es in Inner- und Außerpflersch abteilt. Da unten in den Klammen und Schluchten im Wasser und am Rande hält sich der g'spaßige Furchtbare auf; man nennt daher seit alter Zeit den Bach niemals den "Schleierbach", sondern "Schreiergraben", denn oft schreit der Geist da drunten so wild, als ob der Teufel selbst drinnen steckte. Einige Leute meinen, der Schreier sei der einstmalige Wünschelrutenzauberer, der oben am Tribulaun die Rute eingegraben habe und zur Strafe als Klamm- oder Wassergeist so schreien müsse. Ist aber nicht so, wie ein alter Wilderer, der mehr wußte, "troil" (treu) * erzählt hat.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 318.