Das Totengericht

Das tapfere und berühmte Geschlecht der Ritter von Matsch hatte die Sitte eingeführt, über jeden seiner Verstorbenen in der Franziskanerkirche zu Bozen ein Totengericht halten zu lassen. Der Verstorbene wurde im Sarg in die Kirche getragen, und bevor derselbe zur letzten Ruhe eingesegnet wurde, fand eine Leichenrede statt, in welcher der Geistliche gehalten war, offen und freimütig und wahrheitsgemäß Lob und Tadel über den Wandel des Toten auszusprechen. Wenn der Tadel das Lob überwog, so wurde nach der Rede der Deckel vom Sarge gehoben und der Tote ausgestellt, worauf die Anwesenden ihn mit Weihbrunnen besprengten und für das Heil seiner Seele beteten. Insgeheim vertrauten diejenigen, welche mit dem Toten im Leben nicht hatten zufrieden sein können, dem Pater heimlich an, was sie gegen ihn vorzubringen hatten, dieser brachte dann die Anklagen mit in seiner Rede vor, und die Erben suchten zu sühnen, soviel in ihren Kräften stand. So waren noch alle Menschen, die auf ihrem Stammschlosse verstorben waren, ganz gut und leidlich durch das Totengericht gerechtfertigt befunden worden. Der letzte des Geschlechts aber war gegen seine Untertanen etwas hart und tyrannisch verfahren, doch bat der Pater Guardian von den Franziskanern den Pater, der die Predigt zu halten hatte, er möge es fein glimpflich machen und über das, was der Tote Unrechtes getan, den Mantel der christlichen Liebe breiten, denn jener habe sich doch als ein Wohltäter des Klosters erwiesen, was ihm gewiß im Himmel gut angeschrieben worden. Der Pater Prediger verhieß auch, so schonend als möglich zu verfahren; wie er aber auf der Kanzel war, da kam ein übermächtiger Geist über ihn, und er donnerte Fluch und Verwünschung herab über den Toten und deckte alle Greuel von dessen Sünden auf. Alles zitterte und bebte, der Pater Guardian war wie vernichtet, schlüpfte hinter die Kanzel und zupfte den Pater an der Kutte, dieser aber wandte sich zornig und schrie: "Apage*!" Hierauf lenkte er wirklich ein und brachte auch einiges Gute über den Toten vor, aber es war dessen blutwenig, und gleich darauf donnerte der Pater wieder darauf -los, und endlich schrie er: "Ein steinern' Herz hatte er! Stein war es! Stein ist er! Wollt ihr's nicht glauben, andächtige, zerknirschte Zuhörer, ei so hebt doch den Deckel ab wie vom Sarge eines Treubefundenen, da werdet ihr sehen, daß seine Seele zum Teufel gefahren ist und sein Leib auch dazu. Ein kalter Stein - ein fühlloser Stein -, das war er, das ist er, das wird er sein in alle Ewigkeit! Amen!"

Zorn und Entsetzen erfaßten die Verwandten und alle Anwesenden, man drängte zum Sarge, man hob den Deckel ab, und - o Graus - ein langer dunkler Stein und nichts weiter lag im Sarge.

* Hebe dich weg!

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 296.