Der uralte Wandersmann

Noch in den letzten Jahren lebte (und es ist gar nicht erwiesen, ob er nicht noch heute lebt) ein Mann, der auch mehr verstand, als Brot essen. Seine ursprüngliche Heimat war Luggau an der Tiroler Grenze. Zuletzt hatte er sich im Markt Spittal im Drautal im nahen Kärnten niedergelassen. In früher Jugend hatten ihn Zigeuner entführt und ihn auf ihren Zügen durch mehr als die halbe Welt geschleppt. In Afrika und Amerika war er gewesen, und Zigeunerkünste hatte er gelernt, die erstaunlich waren. So setzte er einen Strohhalm mitten in einem Strohbündel in Flammen, und der Halm brannte oder glimmte fast durch das ganze Bündel bis ans andere Ende, ohne auch nur bei den umgebenden Halmen eine Spur von Brand zu bewirken. Der Zufall führte ihn nach vielen Jahren in die Heimat zurück, und es wurden Kindheitserinnerungen durch die Gegend lebendig in ihm wachgerufen. Daß er entführt worden war, wußte er, und nun entführte er sich selbst rasch entschlossen den Zigeunern und ging inmitten eines Baches stundenweit; denn seine Spur auf der Erde hätten sie vermöge ihrer Kunde von solchen Dingen gleich gefunden. Er zog dann lange im Pustertal umher, bald dieses, bald jenes Gewerbe übend, bevor er seinen Sitz für immer zu Markt Spittal aufschlug. Er war auch Arzt und selbstverständlich Wunderdoktor, aber kein Schwarzkünstler, steuerte den Hexen und Vermeinungen, half den Beschrieenen durch Räucherungen mit allerlei Kräutern von ihren Übeln, besuchte fleißig die Kirche, war allgemein geachtet und lebte noch 1857 im hohen Alter von 106 Jahren. Vielen Leuten, die er nie gesehen, sagte er ihre ganzen Lebensschicksale, als ob er diese aus einem Buche lese, so klar und bündig und zutreffend.


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 354.