Der Versangswiesen-Lorgg

Zwischen Nauders und Reschen dehnen sich prächtige Wiesen aus, welche man "Versangs" nennt und die in früheren Zeiten, besonders nächtlicherweile, gemieden wurden; denn es hielt sich auf benannten Wiesen Versangs ein böser Lorgg auf, der so sehr dämonischer Natur war, daß man ihn zum öflern für den Teufel selbst hielt, der in Lorggengestalt sein Unwesen treibe. Er lauerte außer dem Nauderser Kreuz an der Straße auf harmlose Wanderer, sprang auf sie und ließ sich bis gen Reschen tragen, wo er vor dem Reschener Kreuz absprang, welches die Reschener außer ihrem Dörflern an die Straße setzten.

Blick auf die Versangswiesen
Blick auf die Versangswiesen von Nauders aus
© Berit Mrugalska, 17. September 2004

Diese zwei Kreuze vermochte der böse Lorgg nicht zu passieren, seine unheimliche Fahrt war an diese Linie gebannt, und die Nauderser und Reschener waren mehr als froh, seiner Besuche ledig zu sein. Die Wanderer, denen er sich aufhockte, wurden gewöhnlich todmüde und gefährlich krank, denn der Versangser Lorgg wurde mit jeder Minute schwerer - der war also ein teuflischer Minutendrucker -, und es ist nicht einmal geschehen, daß man niedergedrückte Opfer tot gefunden hat. Eine Bauerndirn welche nächtlicherweile botenweise diesen Weg machte, wurde nicht nur zu Boden gedrückt, sondern noch so arg zugerichtet, daß es keine ehrliche Feder niederschreiben mag. Auf einer nahen Wiese, speziell die "Nauderser Wiese" genannt, finden sich Trümmer alter Mauern, welche von den Römern herstammen sollen, namentlich an der Stelle, wo man die Nauderser Talsperre umgehen kann; diese Trümmer nennt das dortige Volk "das alte Gschloß". Da soll der böse Lorgg verborgen gewesen und abends nach dem Gebetläuten emporgestiegen sein, um seine Bosheiten auszuführen. Viele Anwohner hielten den gefürchteten Unhold für einen verdammten Schatzhüter, der die vergrabenen Schätze unter den Schloßtrümmern bewachen müsse, die sich durch "Schatzblühen" und einen "goldenen Regen", auch durch eine "winkende Jungfrau" kundbar gemacht hatten.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 237.