Eine Vorweilung

Im Zillertale haben sie ein etwas derbes Sprichwort. Wenn einer gestorben ist, sagen sie: "Der hot a Tosch'n aufn A... [Hintern] kriagt." Der Ursprung desselben aber wurzelt in einer Sage. Zu Fügen im Zillertale wohnten zwei elternlose Schwestern, die einander recht lieb hatten, aber voneinander scheiden mußten, weil die eine, Urschel geheißen, in ein Kloster ging, und die andere, Moidl, in einen Dienst trat. Beim Abschied verabredeten beide miteinander, wenn eine von ihnen sterbe, solle sie dies der Überlebenden durch eine Tosch'n (Ohrfeige), aber nicht ans Ohr, sondern auf einen andern Körperteil als Vorweilung anzeigen. Es vergingen Jahre, und die Moidl dachte vielleicht gar nicht mehr an jenes Versprechen, als sie in einer Nacht plötzlich einen gewaltigen Schlag an jener Stelle empfing. Erschreckt sprang sie vom Lager auf und dachte nun in einem fort an die Schwester Urschel, sie konnte nicht mehr schlafen, kleidete sich an und reiste ins Kloster. Als sie es erreichte, bimmelte schon das Seelenglöcklein, das den Tod einer Nonne anzeigt. Schwester Urschel war in derselben Stunde verschieden, in welcher sie ihrer Schwester Moidl die Vorweilung hatte spüren lassen.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 64