Die Weiße Frau auf Madruzz

Unter dem Dorfe Madruzz im Sarkatale erheben sich die Trümmer der gleichnamigen, einst prachtvollen Bergfeste auf einem felsigen Hügel. Vernachlässigt und zerstört liegen diese Reste der Ahnenwiege eines geschichtlich berühmten Geschlechtes vor Augen.

Castel Madruzzo, Trentino © Leni Wallner

Castel Madruzzo, Trentino
© Leni Wallner, Sommer 2006

Man verkaufte die Quader des Bergschlosses, um drunten im Tale armselige Wohnungen und Stallungen davon zu bauen. Der letzte des Geschlechtes derer von Madruzz hieß Karl Emanuel, war Bischof von Trient und wünschte sehr, seinen alten, berühmten Stamm nicht mit sich aussterben zu sehen. Mit schweren Geldopfern erkaufte er sich in Rom die Entbindung von der geistlichen Würde, die man aber nicht mit der Bedingung einer standesgemäßen Verbindung verband. Der Erzbischof liebte aber herzens- und nicht standesgemäß und lebte mit seiner Gemahlin, einer geborenen Ponticella, in dem reizend gelegenen Schlosse Toblino am See gleichen Namens. Aber man weiß nicht, durch was bewegen, überfielen einmal die eigenen Geschwister des liebenden Weibes zur Nachtzeit das unbewachte Schloß, entführten ihm die Angehörige und stürzten sie in den See. Noch bis heute heißt die nach dem See führende Schloßpforte nach jener dunklen Tat La Porta di Ponticella, und nicht minder verewigt eine Straße in Trient, Contrada di Ponticella, das Andenken jener Unglücklichen, die um hohe und schöne Liebe so grausam büßen mußte. Ihr Geist spukt aber noch im Schlosse Madruzz, sie ist dessen Weiße Frau geworden und erscheint stets, wenn der Familie oder dem Besitzer wichtige Ereignisse bevorstehen.

Castel Madruzzo, Trentino © Leni Wallner

Castel Madruzzo, Trentino
© Leni Wallner, Sommer 2006


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 402.