Wilder Mann schaut sein Bild
Unter der Gemeinde Wald, weiter herunter am Abhang des Karresberges, liegt ein kleiner Weiler mit nur vier Häusern, welcher "Waldele" genannt wird. Auch dorthin kam nicht selten ein Wilder Mann von großer, ungeschlachter Natur, aber nicht so menschenscheu wie der Ziegenhirt von Wald. Er besuchte die Bauern im Heimgarten und verkehrte mit ihnen friedlich und verträglich; nur eine Eigenschaft offenbarte er, die jenen nicht anstand, und das war ein gewisser Immerdurst. Getränk durfte man den Wilden Mann nicht wittern lassen, doch war er nicht gerade wählerisch, er trank, was er haben konnte, Wein, Branntwein, Bier, Wasser, ja wenn er nichts anderes fand, trank er das Wasser aus dem Schleiftrog, auf dem Holzbauern ihre Beile schliffen, und meinte: "Eisenwasser macht stark." Auf etwas Steinstaub und Schmutz, womit das Trogwasser stets gemischt war, kam es ihm gar nicht an; den Arbeitern aber war diese Trunksucht lästig, denn sie mußten das Wasser nicht selten weit herholen, und wenn der Trog leer war, konnten sie die Beile nicht schärfen. Daher sannen sie auf Mittel, dem Wilden Mann entweder seine Untugend abzugewöhnen oder ihn ganz abzuschaffen.
Sie füllten ihm daher einmal den Trog mit Wein und dachten, er solle
davon rauschig werden, und dann wollten sie ihm gehörig das Übrige
eintränken. Der Wilde Mann trank mit vollem Behagen den ganzen Trog
leer und sagte dann: "Das Wasser schmeckt heute wie Holzäpfel"
- und wurde recht lustig. Darauf füllten sie den Trog mit Branntwein,
auch diesen trank der Wilde Mann aus und sagte gar nichts, sondern fiel
betrunken beim Troge nieder und schlief ein, wie ein Toter. Es war aber
just schon spät, und die Arbeiter hatten vor, zum Tanze zu gehen,
daher sprachen sie: "Der steht vor morgen Mittag nicht auf, wir wollen
ihn liegen lassen." Wie sie aber am andern Morgen wieder kamen, war
der Wilde Mann auf und davon. Als aber Trinkenszeit war, stellte er sich
wieder ein, und das schlug den Arbeitern in alle Glieder, daß sie
den wilden Mann nicht los wurden. Zu dieser Zeit kam ein Fremdling das
Tal, der war seines Zeichens ein Maler und verstand auch die heimliche
Kreide. Dem klagten die Leute ihre Not, daß sie ihm als Gast nicht
.einmal einen Trunk anbieten könnten, der Wilde Mann
zeche ihnen alles vor dem Munde weg. "Da will ich bald Rat schaffen",
sprach der Fremde, packte sein Gerät aus, strich eine Vorwand des
Hauses mit seiner heimlichen Kreide schneeweiß an und malte darauf
den Wilden Mann, wie er leibte und lebte, zu jedes zahmen Mannes Verwunderung.
Wie nun der Wilde Mann kam und sein Bild sah, tat er einen lauten Schrei, stampfte mit dem Fuße, daß seine Stampfe noch hundert Jahre hernach sichtbar blieb, und rief:
Bin i doch derschrock'n!
Wie ist's Bild so trock'n!
wandte sich zum schleunigen Weggang und kam nie wieder. Seitdem kamen
sehr viele Maler ins Gebirge. Man mag sie gut leiden.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 176.